Juris Familie vermisst ihn seit drei Jahren.
reportage

Krieg in der Ukraine Quälende Suche nach vermissten Angehörigen

Stand: 11.03.2024 12:21 Uhr

Verschleppt, getötet, heimlich begraben: 31.000 Menschen gelten in der Ukraine offiziell als vermisst. Unter ihnen sind Soldaten und Zivilisten. Ihre Familien leiden unter der Ungewissheit - und hoffen doch auf ein Wiedersehen.

Von Susanne Petersohn, ARD Kiew

Lidia Ljachs erwachsener Sohn Juri, ein Handwerker, verschwand, während russische Soldaten ihr Dorf Lytwynywka in der Region Kiew besetzten. Am Morgen des 27. Februar 2022. "Er sagte, das Rad seines Autos sei kaputt und er werde es reparieren gehen. Er ging… und er kam nie wieder", erzählt seine Mutter verzweifelt.

Das Dorf kann Juri nicht freiwillig verlassen haben. Der einzige Weg, der nicht durch besetztes Gebiet führt, wurde gesprengt. Juris Schicksal ist ungewiss. Für seine Mutter ist das eine ununterbrochene Qual: "Ich denke die ganze Zeit: Wo ist er? Und wie geht's ihm wohl?".

Immer wieder geht sie mit ihrer Tochter Olena, Juris älterer Schwester, die Geschehnisse währen der Besatzungszeit durch. Überlegen, was ihm passiert sein könnte. Olena erzählt von schrecklichen Tagen: Zwei Tage lang haben sie im winzigen Kartoffelkeller gelebt - sie und ihre Mutter, die Enkelkinder, der große Schäferhund. Die Angst, rauszugehen, von russischen Soldaten entdeckt zu werden, war einfach zu groß.

Quälende Ungewissheit nach russischem Angriffskrieg: Tausende Menschen in der Ukraine vermisst

Susanne Petersohn, ARD Kiew, Morgenmagazin, 11.03.2024 06:00 Uhr

Zivilisten aus dem Dorf erschossen

Nach zwei Wochen konnten sie dieses Leben nicht mehr aushalten. "Mein Mann rief mich an, er war damals in Kiew und sagte: 'Bitte verlasse den Keller'", sagt Olena. Seine Sorge sei groß gewesen, denn in Hostomel seien viele seiner Freunde gestorben, als sie im Keller waren. Russen seien in die Häuser gekommen, hätten Granaten und brennende Reifen geworfen, die Freunde seien gestorben. Also zog die Familie wieder ins Haus.

Doch was sie vom Fenster ihres Hauses aus erleben, ist kaum zu ertragen: "Sechs Männer wurden einfach auf der Straße erschossen", berichtet Olena. Sie hätten eine Autopanne gehabt und mussten deshalb anhalten - sie hätten versucht, das Auto zu reparieren, um zur Arbeit zu kommen. "Die Russen hätten gelacht und die Zivilisten erschossen, berichtet Olena. "Sie sammelten ihre Leichen und errichteten ein Krematorium in der Nähe des Hauses." Dort hätten sie die Leichen verbrannt - der Geruch sei unerträglich gewesen.

Lidia Ljach mit einem Foto ihres Sohnes Juri, der vor drei Jahren verschwand.

Lidia Ljach mit einem Foto ihres Sohnes Juri, der vor drei Jahren verschwand.

Innenministerium sucht Vermisste

Ob Juri etwas ähnliches zugestoßen ist? Ob er gefangengenommen oder verschleppt wurde? Olena und Mutter Lidia wissen es nicht. Die Suche nach den im Krieg Verschollenen ist kompliziert. Ukrainische Behörden und internationale Hilfsorganisationen sammeln mühsam Beweise, werten Tausende Hinweise aus.

Koordiniert werden alle Hinweise in einer extra eingerichteten Abteilung des Innenministeriums der Ukraine: der Abteilung für unter besonderen Umständen vermissten Personen - also der Personen, die während des russischen Angriffskriegs verschwanden.

Dmytro Bogatjuk leitet diese Abteilung. Sobald Hinweise eingingen, würden diese untersucht und Ermittlungen eingeleitet, versichert er: "Wir beraten die Leute jeden Tag, sagen ihnen, wie sie sich verhalten sollen. Wir versuchen sie zu beruhigen, wir versuchen, ihnen Hoffnung zu geben, dass die vermisste Person noch nicht tot ist." Es gebe eine Telefon-Hotline und Telegram-Kanäle. Allerdings sei die Anzahl Vermisster so hoch, dass der Arbeitsaufwand kaum zu bewältigen sei.

Olena und Lidia gehen die Hinweise auf Juris Verbleib immer wieder durch.

Wieder und wieder sprechen Olena und Lidia die Umstände von Juris Verschwinden durch - ohne Antworten zu finden.

Spuren zu Juri führen nach Belarus

Auch im Fall von Juri gab es immer wieder Hinweise. Immer wieder schöpften seine Mutter Lidia und seine Schwester Olena Hoffnung. "Aus unserer Dorfgemeinschaft wurden zu Beginn 44 Menschen vermisst", sagt Lidia. Die meisten seien in russischer Gefangenschaft gewesen und inzwischen durch einen Austausch nach Hause gekommen. Bei anderen sei zumindest bestätigt, dass sie sich in Gefangenschaft befinden.

Ein halbes Jahr nach der russischen Besatzung sei eine junge Frau freigekommen. "Sie sagte, als sie in Gefangenschaft waren, habe sie Juri nicht gesehen, weil ihnen Säcke über den Kopf gezogen worden waren", berichtet Olena. Aber sein Name sei gefallen, als eine Liste vorgelesen wurde. Auch in einem Krankenhaus in Belarus habe sie wieder seinen Namen gehört. Weitere Informationen über Juris Verbleib hätten sie nicht, berichtet Olena mit Tränen in den Augen.

Lidia erzählt, dass sie vor ein paar Monaten wieder bei der Polizei war, um eine Aussage zu machen. "Bei der Polizei wurde mir gesagt: 'In zwei Tagen ist er Zuhause.'" Zwei Tage habe sie sie ununterbrochen durch die Fenster ihres kleinen Hauses geschaut, sagt Lidia: "Ich dachte: Gott, er ist nicht da, und es gibt nur eine Straße…" Jetzt beginne das dritte Kriegsjahr, und ihr Sohn sei nicht da.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das MoMa am 11. März 2024 um 06:00 Uhr.