Vasyl Volodko
reportage

Ukrainischer KZ-Überlebender "Die Warnsirenen klingen wie im Zweiten Weltkrieg"

Stand: 22.10.2024 19:54 Uhr

Vasyl Volodko hat den Terror der Nazis und die Gräuel zu Sowjetzeiten überlebt - und die Unabhängigkeit der Ukraine erlebt. Jetzt, an seinem 100. Geburtstag, herrscht in seinem Land wieder Krieg. Wie geht er damit um?

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Ein großer schwarzbrauner Schäferhund bewacht das einstöckige Haus mit dem großen Garten von Vasyl Volodko. Gemeinsam mit seiner 93 Jahre alten Frau und seiner Tochter Vera lebt er in Chlewacha rund 30 Kilometer südwestlich von Kiew. Gestützt auf große weiche Kissen sitzt der schmale Mann auf dem Diwan im Wohnzimmer. Er trägt karierte Pantoffeln, ein kariertes Hemd, eine dünne graue Hose und wird heute 100 Jahre alt.

"Alles im Leben war wichtig", sagt der Ukrainer rückblickend. Zu seinem Geburtstag wünscht er sich einen elektrischen Rollstuhl und Besucher, mit denen er ein Gläschen Wodka oder Cognac trinken kann. Doch ob jemand anklopft, ist ungewiss. "Es gibt eben nicht viele Hundertjährige", sagt der alte Mann lächelnd.

Der Hund der Familie Volodko

Ein Schäferhund bewacht das einstöckige Haus mit großem Garten.

Volodko ist seit Jahren blind und kämpft mit den Folgen einer gebrochenen Wirbelsäule. Immer wieder legt er den grauhaarigen Kopf in die Hände. "Glücklich war meine Kindheit nicht", sagt er und denkt an die Hungersnot Anfang der 1930-Jahre, als auch in seiner Familie die Bäuche wegen des Hungers aufgedunsen waren. "Es gab nichts zu essen, da uns alles weggenommen wurde."

Holodomor und Widerstand gegen die deutsche Besatzung

Geboren 1924 in Chutir Volodkiw im Gebiet Poltawa erlebt Volodko die Schrecken des 20. und 21. Jahrhunderts hautnah mit. Die Hungersnot Holodomor, der alleine in der Ukraine laut Schätzungen etwa vier Millionen Menschen zum Opfer fallen. In der Kornkammer der Sowjetunion entziehen die Kommunisten den widerspenstigen Bauern durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft die Lebensgrundlage.

Im Juni 1941 greift Hitler-Deutschland die Sowjetunion an und der junge Volodko will Widerstand leisten. Er verteilt Flugblätter und klebt Plakate gegen die deutschen Invasoren. 1943 wird er erwischt und deportiert. "Sie behielten mich eine Woche lang im Gefängnis, und dann schickten sie mich nach Myrhorod. Dort wurden wir in Waggons verladen und nach Deutschland gebracht", erinnert er sich.

Zwangsarbeit, Folter und Rettung durch die Amerikaner

Im Saarland muss er im Kohleabbau Zwangsarbeit leisten. Er flieht, wird gefasst und kommt nach Saarbrücken ins Gestapo-Folterlager "Neue Bremm". Er überlebt die Folter und den Hunger und weitere deutsche Konzentrationslager wie Natzweiler-Struthof im Elsass und Dachau bei München. Von dort muss er im April 1945 auf einen sogenannten Todesmarsch. Es wurden drei Kolonnen gebildet, erzählt er. Eine mit Sowjetbürgern, eine mit Juden und eine Kolonne mit deutschen politischen Gefangenen.

"Es gab den Befehl, uns alle zu vernichten. Viele unserer Leute sind gestorben, weil wir Tag und Nacht gezwungen wurden, zu laufen. Meistens nachts, so dass die Amerikaner uns nicht von den Flugzeugen aus sehen konnten."

Verhör durch sowjetischen Geheimdienst und Rückkehr

Volodko ist schwach, und als ein deutscher SS-Mann ihn mit einem Gewehrkolben auf den Kopf schlägt, bleibt er bewusstlos liegen. Vermutlich hält ihn der Deutsche für tot, und so finden ihn die Amerikaner. Sie päppeln ihn in einem Krankenhaus auf und später wird er den sowjetischen Truppen übergeben. Bevor er wieder nach Hause kann, verhört ihn der sowjetische Geheimdienst. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands habe er schließlich gehen können, erzählt Volodko. Er entgeht damit dem schlimmen Schicksal vieler ehemaliger sowjetischer Gefangener und Zwangsarbeiter, aus deutschen Lagern direkt in den sowjetischer Gulag deportiert zu werden.

Abgemagert auf knapp 40 Kilo aber am Leben findet Vasyl Volodko seine Mutter im Garten vor. Sie hat seit Jahren nichts von ihrem Sohn gehört und weint vor Freude, als sie ihn sieht.

Vasyl Volodko

Volodko ist seit Jahren blind und kämpft mit den Folgen einer gebrochenen Wirbelsäule.

Lange sitzen kann er nicht und seine Tochter Vera stopft ihm die Kissen im Rücken zurecht. Sie ist in Almaty in Kasachstan geboren, wo ihr Vater viele Jahre als Ingenieur gearbeitet und ihre Mutter kennengelernt hat. Das Ende der Sowjetunion ist der Beginn der unabhängigen Ukraine und damit eröffnen sich auch Vasyl Volodko neue Möglichkeiten, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Er engagiert sich in einer Organisation ehemaliger Häftlinge, reist als Zeitzeuge nach Deutschland und besucht die Orte, an denen er gefangen war und gefoltert wurde. "Ich habe das alles verarbeitet", wird er später sagen.

Russischer Drohnenangriff am Tag vor dem 100. Geburtstag

Mit der Hand tastet er auf dem Diwan nach seinem kleinen silbernen Radio. Es ist sein Tor zur Welt, die blutigen Nachrichten über sein Land zu verfolgen. Schäferhund Tom schlägt draußen an. "Russische Angriffe machen den Hund besonders nervös", sagt Tochter Vera. Einen Tag vor dem Geburtstag ihres Vaters schlagen in Chlewacha russische Drohnen ein. Die alten Eltern können das Haus nicht mehr verlassen, doch einen Schutzraum haben sie ohnehin nicht. "Die Warnsirenen klingen wie im Zweiten Weltkrieg", murmelt Voldoko. "Wladimir Putin hat das Land überfallen und Menschenleben sind ihm egal".

Der Garten der Familie Volodko

Der Garten der Familie Volodko: Schutz vor möglichen Angriffen gibt es rund um das Haus nicht.

Keine Botschaft an die Menschen

Der Winter naht und es ist bereits empfindlich kalt. Die russischen Angriffe haben unter anderem die ukrainische Energieinfrastruktur systematisch zerstört und Volodko hofft, dass Strom, Wasser und Heizung nicht zu oft ausfallen.

Einhundert Jahre lang lebt er nun auf einer Welt, die er immer wieder verflucht haben muss. Für eine Botschaft an die Menschen sei es zu spät, so der alte Ukrainer - und sagt dann auf Deutsch "Auf Wiedersehen".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk in der Sendung "Informationen am Morgen" am 22. Oktober 2024 um 06:11 Uhr.