Fraktionen und Volksvertreter im Europaparlament Der Abgeordnete, das unbekannte Wesen
Kaum einer kennt die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Auch die Arbeit der Fraktionen geschieht zumeist abseits der Öffentlichkeit. Dabei ist der politische Streit dort oft viel lebendiger und unberechenbarer als im Bundestag. Denn Fraktionszwang ist in Straßburg ein Fremdwort.
Von Eckart Aretz, tagesschau.de
Zum Schluss drängten sich im Europäischen Parlament die Themen. In der letzten Sitzungswoche debattierten die Abgeordneten Anfang Mai über den Telekommunikationsmarkt, die Stabilität des Finanzsystems, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, das EU-Konjunkturpaket, die Sozialagenda, die Arbeitszeitrichtlinie, den Lissabon-Vertrag, die Menschenrechte und die Asylpolitik.
Dicke Bretter, möchte man meinen - jedes dieser Themen würde seinen Weg in die Nachrichten finden, wenn es im Bundestag debattiert würde. Doch was in Straßburg auf der Tagesordnung steht, findet meist abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit statt.
Kein Fraktionszwang
Möglicherweise liegt dies auch daran, dass die politische Auseinandersetzung im Parlament ganz anders verläuft als im Bundestag. "Es gibt hier keine Mehrheitsfraktion, die eine Regierung stützen muss", erläutert die Grünen- Fraktionsvize Rebecca Harms. Vielmehr kontrolliert das Parlament die EU-Kommission, treibt sie an und ist Mit-Gesetzgeber.
Damit fällt ein im hiesigen politischen Prozess gewohnter Faktor weg. Kein Abgeordneter muss fürchten, dass über seine Stimme die Regierung stolpert. Das schafft mehr Freiheiten, führt aber auch zu Unberechenbarkeit. "Wir können niemanden zwingen, weil wir keinen Fraktionszwang haben", betont der sozialdemokratische Abgeordnete Jo Leinen gegenüber tagesschau.de. Deshalb werden oft über Fraktionsgrenzen hinweg "immer neue Koalitionen geschmiedet", so Harms.
SPE: Sozialdemokratische Partei Europas
ALDE: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa
UEN: Union für das Europa der Demokraten
Grüne/FEA: Grüne/Freie Europäische Allianz
GUE/NGL: Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke
ID: Unabhängigkeit/Demokratie
Oft ändern sich die Verhältnisse innerhalb weniger Minuten. "Bei jeder Abstimmung an jedem Vormittag ergeben sich laufend sich verändernde Konstellationen", berichtet Hartmut Nassauer, Vize-Vorsitzender der konservativen EVP-ED-Fraktion. Das aber macht die Debatten für den außenstehenden Betrachter häufig unübersichtlich und kompliziert.
Nationale Orientierung bleibt
Nicht selten werden diese kurzfristigen, themenbedingten Allianzen entlang nationaler Linien geschmiedet - mitunter zum Verdruss der jeweiligen Fraktionsführung. "Nationale Prioritäten werden nicht an der Tür des Europaparlaments abgegeben", hat Rebecca Harms erfahren und auch Nassauer weiß, dass sich das jeweilige nationale Interesse "gelegentlich ganz massiv" auswirkt.
Andere Trennlinien kommen hinzu. "Es ist kunterbunt bei uns" beschreibt der sozialdemokratische Europaabgeordnete Jo Leinen die Zusammensetzung seiner Fraktion. So seien die südeuropäischen Abgeordneten stärker sozialistisch orientiert, während die nordeuropäischen Fraktionsmitglieder sozialdemokratisch geprägt seien. Auch bei einzelnen Themen wie den Bürgerrechten beobachtet Leinen ein "Nord-Süd-Gefälle", während er bei Fragen wie der Offenheit des Binnenmarktes einen Graben zwischen Ost und West konstatiert.
Auch eine Frage des Geldes
Auch Nassauer kennt die Interessensunterschiede zwischen Abgeordneten aus Nord- und Südeuropa und benennt sie als Gegensatz "zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern". In seiner Fraktion gab es einen weiteren, massiven Konflikt: der Streit um die Vertiefung Europas. Mit den britischen Konservativen und den tschechischen Abgeordneten lehnt ein beträchtlicher Teil der Fraktion den Vertrag von Lissabon ab.
Am Ende konnte der Streit zwischen Europabefürwortern und Europaskeptikern nicht gelöst werden. Beide Gruppen werden die Fraktion mit dem Ende der Legislaturperiode verlassen. Kein Wunder, dass sich Nassauers Fraktionskollege Markus Pieper, "mehr Disziplin" wünscht - "nicht dieses permanente Ausbüchsen".
Streit um Zugang zu Märkten
Ein Aufsehen erregendes Beispiel für eine politische Willensbildung jenseits der Fraktionsgrenzen war der jahrelange Streit um die Dienstleistungsrichtlinie. 2004 legte der damalige EU-Kommissar Frits Bolkenstein ein Papier vor, das eine weitgehende Liberalisierung vorsah. Unternehmen sollten ihre Dienste zu den Bedingungen ihres Heimatlandes anbieten dürfen - überall in der EU. Während die osteuropäischen EU-Staaten die Reform mit großer Sympathie begleiteten, formte sich vor allem in Deutschland und Frankreich massiver Widerstand.
Nach langer Debatte führte das Parlament einen Kompromiss herbei, der wesentliche nationale Beschränkungen bewahrte. Bei der Abstimmung stimmte deshalb der größere Teil der konservativen EVP-Fraktion mit der SPE, der kleinere der EVP-Fraktion aber dagegen. Vor allem osteuropäische Abgeordnete zeigten sich anschließend bitter enttäuscht.
Wie im US-Kongress?
Gleichwohl betont Nassauer die gemeinsamen Überzeugungen der Fraktionsmitglieder und bestreitet, dass es sich bei den Fraktionen um einen eher lockeren Zusammenschluss handelt. Leinen hingegen vergleicht die Arbeit im Europaparlament mit dem "amerikanischen Kongress" - dort sind Republikaner und Demokraten symbolische Vereinigungen, zwischen denen die Grenzen fließend verlaufen.
Heterogenität ist vor allem ein Problem für die großen Fraktionen. Rebecca Harms verweist darauf, dass keine Fraktion in der Legislaturperiode so geschlossen abgestimmt habe wie die Grünen, die aber nur 43 Abgeordnete in Straßburg haben. Doch auch sie muss einräumen, dass es auch bei den Grünen eine Kluft gibt zwischen EU-Enthusiasten und EU-Skeptikern. Auch weiß sie von deutlichen Meinungsunterschieden auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik zu berichten.
Selten daheim
Umso wichtiger, aber auch umso schwieriger ist es, die Arbeit der EU-Abgeordneten und -Fraktionen zu erklären, für den Wähler begreifbar zu machen. Doch dafür fehlt den Parlamentariern häufig die Zeit. Ein Bundestagsabgeordneter ist in der Regel zwei Wochen im Monat in seinem Wahlkreis. Ein EU-Abgeordneter dagegen verbringt die meiste Zeit in Brüssel und Straßburg und ist nur wenige Tage im Monat im Wahlkreis.
"Wir können uns nicht zweiteilen", verteidigt sich Rebecca Harms. Zugleich wünscht sie sich von den Bundes- und Landesparlamenten eine größere Bereitschaft, sich mit europäischen Themen zu beschäftigen. "Das Europaparlament sollte nicht nur als Infoquelle für nationale Debatten gesehen werden", rüffelt sie ihre nationalen Kollegen. Europa-Politik, so ihr nüchternes Fazit nach vier Jahren im Parlament, "ist für die nationalen Parteien, aber auch Nicht-Regierungsorganisationen und die Medien exterritoriale Politik".
Hoffen auf Reformvertrag
Leinen und Nassauer hoffen vor allem auf den Vertrag von Lissabon. Er wird nach der Überzeugung des Christdemokraten dazu führen, dass die nationalen Parlamente noch genauer nach Straßburg schauen. Davon verspricht sich Nassauer ein größeres Bewusstsein für europäische Themen und die Arbeit der EU-Abgeordneten. Leinen hofft, dass der Machtzuwachs des Parlaments zu einer Personalisierung führt. "Europa bekommt Gesichter", glaubt der Sozialdemokrat – dadurch würden die Alternativen deutlicher.
Auf mehr Interesse hoffen alle Abgeordneten. Denn sie sind überzeugt: So mühsam die politischen Debatten im Parlament auch sein mögen – "der Aufwand", so Leinen, "lohnt sich". Und Nassauer lobt das Abgeordnetendasein als "sehr spannend: Es ist nicht alles so festgezurrt wie auf der nationalen Ebene."