Interview

UN-Sondergesandter zur Lage in Afghanistan "Der Friedensprozess braucht Zeit"

Stand: 27.12.2015 06:25 Uhr

Der Südafrikaner Nicholas Haysom ist der UN-Sondergesandte für Afghanistan. Sandra Petersmann und Jürgen Webermann haben ihn in Kabul getroffen und mit ihm zum Jahresende über die Situation in am Hindukusch gesprochen. Er sagt: Das Land bleibt vorerst von ausländischer Hilfe abhängig.

tagesschau.de: 2015 war ein schlimmes Jahr für Afghanistan. Wagen Sie einen Ausblick auf 2016?

Nicholas Haysom: Es gibt in diesem Land keine Garantien. Es gibt eine große Sicherheitsherausforderung. Es gibt für die Regierung auch große politische und wirtschaftliche Herausforderungen. Wir müssen akzeptieren, dass dieses Land Zeit und Geduld braucht. Wir wissen alle, dass Afghanistan von ausländischer Hilfe abhängig ist.

Afghanistan muss stärkere politische Institutionen entwickeln. Afghanistan muss weiter an seinen eigenen, demokratischen Instrumenten, an seiner eigenen demokratischen Kultur arbeiten. Das Land muss sich auf die Entwicklung seiner Infrastruktur konzentrieren. Es muss in seine Landwirtschaft investieren, damit die Gewinne aus der Landwirtschaft auch im Land erwirtschaftet werden.

Afghanistans Vorteil ist seine geographische Lage. Es ist die Schnittstelle zwischen einem energiereichen Norden und einem energiehungrigen Süden. Es sitzt an der Schnittstelle wichtiger Handelsrouten. Das muss Afghanistan ausnutzen. Afghanistan muss auch seine Bodenschätze ausnutzen. Aber das alles kann nicht passieren, solange das Land in einem tobenden Konflikt feststeckt.

Wenn wir wollen, dass Afghanistan auf eigenen Füßen stehen kann, müssen wir für mehr Stabilität sorgen. Ein Friedensprozess ist eine zwingende Notwendigkeit. Das wird nicht im nächsten Jahr passieren. Das braucht viel Zeit. Uns muss allen klar sein, dass Afghanistan ohne Frieden als Staat nicht überlebensfähig ist. Afghanistan kann sich die Kosten seiner Militarisierung nicht leisten.

Die Grundvoraussetzung für Frieden ist, dass alle Hauptakteure einsehen, dass sie sich in einem schmerzhaften Patt befinden. Die verfeindeten Blöcke müssen einsehen, dass dieser Konflikt keinen militärischen Sieger haben wird. Ich denke, wir nähern uns diesem Punkt. Die Alternative ist, dass Afghanistan in einem langen Bürgerkrieg verharrt.

tagesschau.de: Afghanistan erlebt einen neuen Exodus. Wie erklären Sie sich, dass  so viele Menschen im Jahr 2015 das Vertrauen verloren haben?

Haysom: Wir haben es hier mit einem besonderen Fall zu tun. Afghanistan ist ein Land mit einer fürchterlichen, ungelösten jüngeren Kriegsgeschichte, die bis heute andauert. Seit über 30 Jahren. Die Zukunft ist verschwommen. Vollkommen unklar. Das ist eine fatale Kombination.

Die Erinnerung an die Kriegsvergangenheit, der Ist-Zustand und die verschwommene Zukunft treiben die Menschen in die Hoffnungslosigkeit. Eine weitere Triebkraft der Angst ist die schrumpfende Wirtschaftskraft. Die Wirtschaft ist vor allem nach dem Abzug der Kampftruppen eingebrochen. Es ist viel Geld aus dem Land abgeflossen. Die Menschen haben Angst um ihre Zukunft, um ihr Leben, um ihre Familie. Das sorgt für den Exodus.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt die internationale Gemeinschaft?

Haysom: Ich denke, die massenhafte Flucht erinnert uns alle daran, wie wichtig es ist, weiter in Afghanistan zu investieren. Es ist billiger und effektiver, Geld in die Entwicklung Afghanistans und in neue Hoffnung hier im Land zu investieren, als das Geld für die Integration der Flüchtlinge in Europa auszugeben.

tagesschau.de: Der Truppenabzug ist gestoppt. Aber die meisten Geberländer sind nach 14 Jahren müde. Und unwillig, auch wegen korrupter Strukturen.

Haysom: Mein Ansatz ist ein anderer. Wir haben hier so viel investiert. Wir könnten alles verlieren, was wir hier aufgebaut haben. Afghanistan braucht dringend eine Atempause von ein paar Jahren, um langsam aufzustehen und um sich wirtschaftlich zu entwickeln. Das Land braucht Entlastung, um Freiräume für Friedensgespräche auszuloten. Es muss die Sicherheitsbedingungen für politische Gespräche schaffen. Das alles zusammengenommen ist die Grundlage, auf der ich der internationalen Gemeinschaft dringend empfehlen würde, Afghanistan weiter zu unterstützen, wenigstens mittelfristig.

IS "nicht Kern des Konflikts"

tagesschau.de: Als neue Bedrohung ist der selbsternannte "Islamische Staat" dazugekommen, der versucht, in Afghanistan Fuß zu fassen.

Haysom: Wir dürfen nicht den Fehler machen, den sogenannten Islamischen Staat in Afghanistan stärker zu machen als er ist. Wir dürfen die Gefahr aber auch nicht unterschätzen. Noch ist der Einfluss begrenzt. Das hat auch religiöse Gründe. Der IS basiert auf dem Salafismus, der keine Tradition in Afghanistan hat. Der afghanische Konflikt ist heute im wesentlichen ein nationaler Konflikt, kein Konflikt globaler Dschihadisten. Dennoch dürfen wir die Attraktivität, die der IS auf unzufriedene extremistische Gruppen in Afghanistan ausübt, nicht unterschätzen. Eine neue Marke übt neue Anziehungskraft aus, sie wirbt mit Geld und Waffen. Das Potenzial ist da.

tagesschau.de: Wie real ist die Gefahr Ihrer Meinung nach?

Haysom: Wenn die Leute über den IS in Afghanistan reden, ist nicht immer klar, worüber sie eigentlich reden. Ist es eine Parole zu sagen, dass der IS in Afghanistan ist? Ist die Tatsache, dass die Islamische Union Usbekistans (IUM), im Land ist ein Beweis dafür, dass der IS hier ist? Oder begreifen wir die Dissidenten der Taliban-Bewegung, die mit der Hauptgruppe kämpfen, als IS?

Vieles wird davon abhängen, wie sich Afghanistan weiter entwickelt. Wir müssen uns das sehr genau anschauen, aber der IS ist nicht der Kern dieses Konflikts.

tagesschau.de: Die Taliban wirken, trotz der vielen Anschläge und Offensiven, seit dem Tod Mullah Omars auch fragmentiert. Was bedeutet das für mögliche Friedensgespräche?  

Haysom: Ich erinnere mich an eine Situation vor ein paar Jahren. Wir versuchten uns damals vorzustellen, wie ein afghanischer Friedensprozess aussehen könnte. Wir haben schon damals akzeptiert, dass wir es hier niemals mit einem zusammenhängenden, eindimensionalen Prozess zu tun haben würden, in dem alle Beteiligten von Anfang an zusammen am Tisch sitzen und verhandeln. 

Es wird in Afghanistan nicht den einen Prozess geben, der den Konflikt lösen wird. Es wird Gruppen geben, die nicht teilnehmen werden. Ich denke, dieses Szenario ist weiter gültig. Unser Ziel muss es sein, den Rumpf an den Verhandlungstisch zu bekommen. Das sind die Vertreter der Regierung und das ist der Kern der Taliban-Bewegung.

Leere Staatskassen, mehr Gewalt

tagesschau.de: Die afghanische Regierung ist intern aber auch zerstritten. Das schwächt sie und stärkt den Gegner.

Haysom: Wir sollten akzeptieren, dass diese Regierung der nationalen Einheit vor Problemen steht, mit denen es die Regierung Karsai nicht zu tun hatte. Die alte Regierung konnte sich auf die militärische und finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verlassen. Als diese Regierung ihr Amt antrat, war die Staatskasse leer. Sie war kaum in der Lage, die ersten Gehälter der Regierungsangestellten zu zahlen. Zeitgleich hatte sie es mit einem Anstieg der Gewalt zu tun.

tagesschau.de: War es falsch, Präsident Ghani und Regierungschef Abdullah nach der Präsidentschaftswahl in eine Regierung der Nationalen Einheit zu zwingen?

Haysom: Gehen wir einen Schritt zurück. Was war die Logik hinter der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit? Diese Regierung wurde auf den Weg gebracht, um den enormen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen im Angesicht der wachsenden Unsicherheit zu begegnen. Diese Herausforderungen verlangen einen stärkeren nationalen Zusammenhalt, mehr Solidarität und mehr Zusammenarbeit. Viel mehr als in jeder etablierten Demokratie. 50 plus ein Prozent reichen in Afghanistan nicht.

Die Theorie ist also, dass eine Zusammenarbeit der beiden großen Blöcke um die beiden wichtigsten Kandidaten Ghani und Abdullah die nötige Basis liefern kann. Es stimmt, dass dieses Fundament in den vergangenen eineinhalb Jahren kleiner geworden ist. Aber deswegen ist die Theorie nicht falsch. Dieses Land ist immer noch auf Einheit und Solidarität angewiesen. Eine Splitterung seiner Mitte kann und wird Afghanistan nicht verkraften.

tagesschau.de: Soweit die Theorie. Aber in der Praxis funktioniert es nicht.

Haysom: Die Komplexität der Regierung der Nationalen Einheit macht das Regieren nicht einfacher. Wichtige Entscheidungsprozesse werden verzögert.  An der Regierung sind jetzt mehr Gruppen und Akteure beteiligt, die ihre ganz eigenen Ansprüche haben. Wir können nur hoffen, dass die schlimmsten Startschwierigkeiten vorüber sind.

Wir hoffen, dass diese Regierung in der Lage ist, kraftvoller und mit mehr Einheit den Weg nach Vorne zu beschreiten. Diese Regierung braucht eine gemeinsame, zusammenhängende Vision. Aus meiner Sicht gibt es keine fundamentalen Widersprüche in dem, was die beiden großen Blöcke wollen. Die größten Streitigkeiten gibt es wegen einzelner Individuen. Es gibt Streit über die Besetzung von Ämtern. 

tagesschau.de: Die Regierung muss regieren. Und was muss die internationale Gemeinschaft tun, von der diese afghanische Regierung abhängig ist?

Haysom: Afghanistan hat große Bedürfnisse. Wir müssen beweisen, dass unsere Investitionen und unsere Hilfe wirklich einen Unterschied machen. Das ist unsere Herausforderung. Das ist auch eine Herausforderung für die afghanische Regierung.

Sie muss beweisen, dass sie einen belastbaren Plan hat und dass sie den politischen Willen hat, diesen Plan auch umzusetzen. Die Regierung muss beweisen, dass sie den Kampf gegen die Korruption ernst nimmt.  Sie muss beweisen, dass sie wirklich die Institutionen aufbauen will, auf denen die Entwicklung des Staates ruhen kann. Das muss das Vermächtnis unserer Investition sein.

Zur Person
Nicholas Haysom ist seit 2014 UN-Sondergesandter für Afghanistan. Der Südafrikaner hat eine lange Karriere bei den Vereinten Nationen hinter sich. Von 1994 bis 1999 war er außerdem enger Berater Nelson Mandelas.

Kaum nachhaltige Hilfe

tagesschau.de: Weniger Militär? Mehr Entwicklungshilfe und mehr Politik?

Haysom: Die Entwicklungshilfe sollte sich an den Bedürfnissen der afghanischen Regierung orientieren. Aber in einem militärischen Szenario, in dem das meiste Geld durch militärische Kanäle läuft, werden Entwicklungsprogramme verzerrt. Dann fließt das Geld in Gebiete, in denen gekämpft wird und nicht unbedingt dahin, wo es gebraucht wird. Das Geld fließt dann nicht in Abstimmung mit den Entwicklungsplänen der Regierung.

Wenn wir uns die vergangenen Jahre anschauen, hätte viel mehr Geld in die Entwicklung der Landwirtschaft fließen müssen. Insofern gibt es keinen Zweifel, dass Entwicklungshilfe, die in einem militärischen Umfeld stattfindet, kaum nachhaltig ist. Es stimmt, dass viele Schulen und Kliniken gebaut worden sind, aber dabei ging es nie um die Frage, ob diese Projekte später auch weiter finanzierbar sind.

Es ging nicht um die Frage der Nachhaltigkeit. Viele der Akteure, die in den vergangenen Jahren über den Fluss der Entwicklungshilfe entschieden haben, waren militärische Entscheider mit kurzen Zeitverträgen, die keine langfristige Vision für dieses Land hatten.

Das Interview führten Sandra Petersmann und Jürgen Webermann für tagesschau.de