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Gazakrieg "Israel hat die Hamas-Tunnel unterschätzt"

Stand: 24.07.2014 19:50 Uhr

Die Hamas ist stärker als Israels Militärführung dachte: ARD-Korrespondent Richard C. Schneider erklärt im Interview mit tagesschau.de, was das mit den Tunneln unter Gaza zu tun hat - und warum die USA auf beiden Seiten derzeit als Vermittler schlechte Karten haben.

tagesschau.de: Seit einer Woche geht die israelische Armee mit einer Bodenoffensive gegen die Hamas vor. Die radikalen Palästinenser leisten heftigen Widerstand, mehr als 30 israelische Soldaten wurden getötet. Sind die Israelis von der Schlagkraft der Hamas überrascht?

Richard C. Schneider: Ein israelischer Soldat hat sich in hiesigen Medien geäußert - und gesagt: Die Hamas könne mittlerweile so gut kämpfen wie die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon. Die israelische Armee ist also tatsächlich überrascht, wie gut die Hamas-Kämpfer ausgebildet und vorbereitet sind.

Richard C. Schneider
Zur Person
Seit 2006 leitet Richard C. Schneider das ARD-Studio in Tel Aviv. Von dort berichtet er für Tagesschau, Tagesthemen und Nachtmagazin aus Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf tagesschau.de berichtet er regelmäßig in seinem Videoblog "Zwischen Mittelmeer und Jordan" aus der Region.

"Gaddafis Waffenarsenale geplündert"

tagesschau: Wieso ist die Hamas besser ausgestattet als von der israelischen Armeeführung vermutet - und verfügt über die entsprechenden Waffen?

Schneider: Die Waffen wurden vor allem über Syrien und vom Iran geliefert. Das ist bekannt, weil es den Israelis hin und wieder gelungen ist, Waffenlieferungen auf See abzufangen. Außerdem bekam die Hamas Waffen aus dem Sudan, weswegen Israel dort Waffendepots und -transporte bombardiert hatte. Des Weiteren wurden nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al Gaddafi dessen Waffenarsenale geplündert - und anschließend kreuz und quer im Nahen Osten verbreitet. Ein Teil davon landete auch im Gazastreifen.

Hinzu kommen selbstgebaute Raketen; ich sage bewusst nicht "selbstgebastelt", wie es manchmal verharmlosend gesagt wird. Noch vor rund zehn Jahren hatte die Hamas "selbstgebastelte" Kassam-Raketen mit einer Reichweite von bis zu zwölf Kilometern. Keine Frage, auch diese Waffen können Menschen töten. Aber mittlerweile sind die Raketen, die die Hamas und der Islamische Dschihad selbst bauen, von anderem Ausmaß. Die reichen bis nach Tel Aviv.

tagesschau.de: Abgesehen von den selbstgebauten Raketen - wie konnte die militärische Ausrüstung trotz israelischer Blockade des Gazastreifens zur Hamas gelangen?

Schneider: In erster Linie lief das über die Schmuggeltunnel, die es zwischen der ägyptischen Sinai-Halbinsel und Gaza gab. Diese Tunnel sind erst von der neuen ägyptischen Militärregierung unter Präsident Abdel Fattah al Sisi überwiegend geschlossen und gesprengt worden. Das heißt: Jetzt haben die Hamas und der Islamische Dschihad größere Probleme, Waffen von außerhalb zu bekommen. Bis dahin ging das aber ganz einfach.

 

"Das Militär ignorierte die Warnungen"

tagesschau.de: Die Tunnelsysteme gibt es ja auch unter dem Gazastreifen und sogar in Richtung Israel. Im aktuellen Krieg werden sie immer wieder als Bedrohung für Israel beschrieben. Warum? 

Schneider: Das sind - anders als die nach Ägypten reichenden Schmuggeltunnel - militärische Tunnel. Sie sind bis zu 40 Meter tief und wurden nicht nur gebaut, um die Führer der Hamas zu schützen, das gab es früher schon. Diese Tunnel wurden geschaffen, um von dort aus Raketen auf Israel abzufeuern. Teilweise reichen die Tunnel auch bis nach Israel hinein.

Dieses Tunnelsystem war den Israelis zwar bekannt - doch es wurde unterschätzt, wie groß und wie perfekt es ist. Das wird aktuell hier in den Medien heftig diskutiert. Es gab einige Fachleute, die schon vor Jahren darauf aufmerksam gemacht hatten, allerdings vergeblich. Das Militär und der Geheimdienst ignorierten diese Warnungen.

"Die Hamas ist dreigeteilt"

tagesschau.de:  Wer hat bei der radikal-islamischen Organisation überhaupt das Sagen?

Schneider: Die Führung der Hamas ist dreigeteilt. Es gibt die Führung außerhalb des Gazastreifens, der Chaled Maschaal vorsteht. Er agiert von Katar aus und war viele Jahre lang unumstrittener Chef der Hamas. Doch das hat sich längst geändert. Spätestens seit dem Wahlsieg der Hamas 2006 und dem Putsch 2007 gegen die Fatah hat sich vor Ort in Gaza eine eigene Führungsschicht aufgebaut, die zunehmend unabhängig von der Exilführung handelt. Zwischen diesen beiden Gruppen hat es immer mehr Machtkämpfe gegeben.

Als dritte Gruppe gibt es noch den militärischen Flügel innerhalb Gazas, der sich teilweise auch dem politischen Flügel widersetzt. Aktuell hat sich das beim letzten Waffenstillstandsversuch vor Beginn der Bodenoffensive gezeigt.

Während die politische Führung in Gaza Bereitschaft signalisierte, interessierte das den militärischen Flügel überhaupt nicht. Der Raketenbeschuss wurde bewusst fortgesetzt - direkt befohlen vom Führer der Kassam-Brigaden, also dem militanten Flügel der Hamas.

   

"Kerrys Ansehen hat noch weiter gelitten"

tagesschau.de: Angesichts dieser komplizierten Machtstrukturen innerhalb der Hamas - wer kann da von außen überhaupt vermitteln? US-Außenminister John Kerry?

Schneider: Das bezweifle ich. Er hat hier in der Region unglaublich viel an Einfluss verloren, nachdem seine neunmonatigen Verhandlungen kläglich gescheitert waren. Das Ansehen Kerrys und der USA insgesamt hat also noch weiter gelitten. Doch nicht nur die Araber sind von US-Präsident Barack Obama massiv enttäuscht. Auch Israel hält nichts von der Obama-Regierung - und betrachtet den US-Präsidenten fast schon als Gegner und nicht als Freund.

Auch der Einfluss der USA auf Ägypten ist gesunken. Die Amerikaner hatten im Zuge der Arabischen Revolution ihren langjährigen Verbündeten, Präsident Hosni Mubarak, blitzartig fallen lassen und vor allem den demokratisch gewählten, aber wahrlich nicht demokratischen Muslimbruder-Präsidenten Mursi akzeptiert.

Das hat Ägyptens jetziger Präsident Sisi, der seit dem Ende der Herrschaft des Muslimbruders Mohammed Mursi das Sagen hat, nicht vergessen. Dazu passend: Bei seinem Besuch in Kairo mussten sich Kerry und sein gesamtes Team von Metalldetektoren durchsuchen lassen - als amerikanischer Außenminister!

"Nur Ägypten kann etwas ausrichten"

tagesschau.de: Auf wen richten sich dann die Hoffnungen, wenn es um eine Waffenruhe geht?

Schneider: Wenn jemand etwas ausrichten kann, dann Ägypten - trotz allem. Denn neben Israel hat das Land eine eigene Grenze zum Gazastreifen und kann so auf die Palästinenser einwirken. Das Problem ist aber: Die ägyptische Militärregierung hasst die Muslimbruderschaft und damit auch die Hamas, deren palästinensischen Ableger. Ägypten will alles, was islamistisch ist, vernichten. Im Grunde wäre es Sisi recht, wenn Israel die Hamas auslöschen würde.

Das hat aber nicht nur innenpolitische Gründe, sondern auch innerarabische. Das Emirat Katar hat den Aufstieg der ägyptischen Muslimbruderschaft mit viel Geld unterstützt - und damit versucht, Ägypten als Machtfaktor in der arabisch-sunnitischen Welt zu schwächen. Das wird Sisi Katar nicht verzeihen - und dem Hamas-Verbündeten einen möglichen Vermittlungserfolg damit auch nicht gönnen. Genauso ist es mit Israel: Die Regierung Netanjahu will Katar da auch raushalten.

 

tagesschau.de: Welche Zugeständnisse müsste Ägypten - trotz aller Wut auf die Hamas - machen, damit ein Waffenstillstand doch noch möglich ist?

Schneider: Ägypten müsste zumindest einen Teil der Hamas-Forderungen erfüllen. Vielleicht könnte Sisi dem Wunsch der Gaza-Palästinenser, wieder die Grenzen zum Sinai zu öffnen, nach langen Verhandlungen und unter Bedingungen zustimmen. Doch ob das dauerhaft funktioniert, kann ich nicht abschätzen.  

tagesschau.de: Und inwieweit wird Israel Forderungen der Hamas - Stichwort Aufhebung der Blockade - nachkommen müssen?

Schneider: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Israel beispielsweise die Seeblockade aufhebt. Denkbar wäre aber, dass Israel sehr viel mehr humanitäre Güter - Lebensmittel oder Medikamente - nach Gaza lässt als bisher. Aber eine komplette Öffnung der Grenzen kann ich mir nicht vorstellen.

Das Interview führte Jörn Unsöld, tagesschau.de.