IS-Kämpfer in einem Propaganda-Video
Hintergrund

Die Entwicklung der Terrormiliz Wie der "Islamische Staat" so stark werden konnte

Stand: 18.11.2015 17:14 Uhr

Der IS kontrolliert heute ein Drittel des Irak und große Gebiete im angrenzenden Syrien. Wie konnte es der Terrorgruppe gelingen, ihren Einfluss binnen relativ kurzer Zeit derart auszuweiten? Und wie groß ist ihre Macht derzeit?

Von Nina Amin, ARD-Hörfunkstudio Kairo

Vermummte Kämpfer, die in Jeeps durch die irakische Wüste rasen, die ihre schwarzen Fahnen schwenkend Dörfer und Städte im Westen und Norden des Landes gewaltsam unter ihre Kontrolle bringen. Das sind die Bilder, die im Sommer vergangenen Jahres um die Welt gingen. Inszeniert durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) selbst, die Videos mit ihren Gräueltaten über soziale Netzwerke verbreitet - unterlegt mit ihrer Kampfhymne.

Der IS kam nicht aus dem "Nichts". Er hat seine Wurzeln in der Dschihadistengruppe "Al Kaida im Irak". Unter dem Namen ISIS - "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" - weitete die Terrormiliz nach dem Beginn des Aufstandes gegen den syrischen Machthaber Bashar al-Assad ihre Übergriffe auf Syrien aus. Bereits 2013 hatten sie das Sagen im nordsyrischen Rakka, der heutigen Hochburg des IS.

Sunniten im Irak diskriminiert

Im Irak spielten den sunnitischen Extremisten die inneren Konflikte im Land in die Hände. Die sunnitischen Muslime sind im Irak in der Minderheit. Seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 fühlen sie sich von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit diskriminiert - zu Recht: Der Schiit Nouri al-Maliki - bis zum Sommer vergangenen Jahres acht Jahre lang irakischer Ministerpräsident - hat Sunniten Aufstiegschancen beim Militär und in der Politik verwehrt. In diesem Klima kam es seit dem Abzug der Amerikaner Ende 2011 immer wieder zu Protesten der sunnitischen Muslime im Irak. Und es erklärt die Blitzerfolge der Terrormiliz - damals noch unter dem Namen ISIS - im Nordirak.

Unterstützt wurde der Vormarsch der Terroristen von sunnitischen Stämmen und von Baathisten, also Mitgliedern der Partei des ehemaligen Machthabers Saddam Husseins. Das sagte auch ein Kommandeur kurdischer Milizionäre, die sich damals als einzige den vorrückenden Kämpfern erfolgreich in den Weg stellten: "Da gibt es keine Organisation von ISIS. Wenn es ISIS-Leute gibt, sind es ein paar ihrer Kämpfer. Die anderen sind alles Stammeskrieger und Angehörige der früheren Baath-Partei." 

Armee stand dem IS in Mossul hilflos gegenüber

Was für ein leichtes Spiel die sunnitischen Kämpfer im sunnitisch geprägten Nordirak hatten, zeigte sich bei der Übernahme der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul im Juni 2014. Die irakische Armee, von den USA aufgebaut und finanziert, floh vor den Kämpfern. Tausende desertierten oder liefen zu den vorrückenden Terror-Truppen über. Die irakische Regierung stand dem hilflos gegenüber.

Iraks damaliger Regierungschef, Nouri al-Maliki, wollte die Schwäche seiner Armee nicht wahrhaben: "Die Armee, Polizei und Sicherheitsexperten sind viel stärker als ISIS-Terroristen", sagte er damals. "Es muss eine Verschwörung gewesen sein. Aber erst müssen wir Iraker alle gemeinsam die Terroristen mit der Macht der Waffen und mit Willensstärke zu Fall bringen, so Gott will."

Terror auch durch Antiquitätenverkauf finanziert

Kurz nach der Einnahme von Mossul ernannte ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi in der Millionenstadt sich selbst zum Kalifen und sein Herrschaftsgebiet zum Kalifat. ISIS nannte sich fortan "Islamischer Staat".

In der Folgezeit zeigte sich die Brutalität des IS. Wer seiner menschenverachtenden Vorstellung vom Islam nicht folgte, wurde umgebracht. Frauen und Mädchen müssen um ihr Leben fürchten, wenn sie das Haus unverschleiert oder überhaupt verlassen. Der IS kam auf seinen Beutezügen an Geld und Waffen. Seinen Terror finanzierte er auch durch den Verkauf von Antiquitäten. Für einfache Dschihadisten wurde er zum verlässlichen Arbeitgeber.

25.000 ausländische Kämpfer beim IS?

Heute kontrolliert der IS ein Drittel des Irak und große Teile in Syrien. Sein brutaler Ruf eilt seinen Kämpfern voraus - und macht ihn auch jenseits des Irak und Syriens für Extremisten attraktiv. In Libyen und in Ägypten haben sich Ableger des "Islamischen Staats" gebildet. Aus Europa zieht es hauptsächlich junge Männer in den Krieg und zum IS. Westliche Geheimdienste vermuten rund 25.000 ausländische Kämpfer an der Seite des IS im Irak und in Syrien.

Einige Städte konnten vom irakischen Militär dieses Jahr zurückerobert werden. In der vergangenen Woche befreiten kurdische Pershmerga-Kämpfer die strategisch wichtige Stadt Sindschar von den Terroristen - mit Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition.

Das könnte für den weiteren Verlauf im Kampf gegen den IS von großer Bedeutung sein. Durch die Stadt führt eine wichtige Verbindungsstraße, auf der die Kämpfer des "Islamischen Staats" bislang Nachschub, wie Munition oder Waffen, zwischen der IS-Hochburg Rakka in Syrien und Mossul im Irak transportieren konnten. Ein Durchbruch im Kampf gegen den IS ist es aber noch nicht. Im Gegenteil: Seit den Anschlägen in Paris wird die Terrormiliz als globale Bedrohung wahrgenommen.   

N. Amin, ARD Kairo, 18.11.2015 16:09 Uhr