Angehörige der Geiseln bei einem Protestmarsch von Tel Aviv nach Jerusalem.
reportage

Marsch nach Jerusalem "Bringt sie nach Hause!"

Stand: 16.11.2023 21:36 Uhr

Etwa 240 Geiseln werden noch in der Gewalt der Hamas vermutet. Ihre Familien leben seit fast sechs Wochen in großer Unsicherheit. Hunderte Angehörige sind zu einem Protestmarsch nach Jerusalem unterwegs.

"Holt sie nach Hause, jetzt!", rufen sie. Immer wieder. Hunderte sind es in Sha’alvim - auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Einer von ihnen ist Ilan Zecharya. Er habe seine Stimme verloren, sagt er. "Ich schreie den ganzen Weg. Unser Ruf ist eine Erinnerung an die Brüderlichkeit, die alle auf die Straße gebracht hat. Und in Jerusalem wird es noch viel, viel größer sein."

Zecharya vermisst seit dem 7. Oktober seine Nichte Eden. Die 28-Jährige wird in der Gewalt der Hamas vermutet. Neben ihm steht Edens Mutter Orin.

Überall Schmerz

Orin trägt Sonnenhut und dunkle Sonnenbrille. Es sind 28 Grad Celsius in Sha’alvim. Im Park des Dorfes verteilen Freiwillige Wasser und Sandwiches. Die Familien und ihre Unterstützer stärken sich für die nächste Etappe Richtung Jerusalem.

"Mein Rücken und meine Beine schmerzen, aber mein Herz schmerzt mehr," sagt Orin. Seit fast sechs Wochen hat sie kein Lebenszeichen ihrer Tochter gehört. Auch unterwegs schaut Orin regelmäßig auf ihr Smartphone, um die Nachrichten zu checken.

Angehörige der etwa 240 verschleppten Geiseln weiter in Ungewissheit - Opposition fordert den Rücktritt Netanyahus

Christian Limpert, ARD Tel Aviv , tagesthemen, 16.11.2023 22:15 Uhr

Banges Warten auf Nachrichten

Immer wieder gibt es Andeutungen, dass die Freilassung einiger Geiseln bevorsteht. Doch passiert ist bisher wenig. Orin hält sich deshalb zurück, etwas über Gerüchte und Zwischenstände der Verhandlungen zu sagen: "Solange kein Bericht offiziell bestätigt ist, werde ich auch nichts dazu sagen."

Orin und die anderen Familien verlangen, dass die israelische Regierung alles versucht, die Geiseln freizubekommen. Ob eine Feuerpause oder ein Gefangenenaustausch - alles ist ihnen recht. Hauptsache ihre Liebsten kommen nach Hause. "Wenn wir schreien, hört uns die Regierung, sogar unsere Geiseln hören unsere Schreie. Alle hören uns. Mit Sicherheit."

Zurückhaltung bei Kritik

Mit konkreten politischen Forderungen, mit Kritik an der Regierung Netanyahu, halten sich Ilan und die anderen hier zurück. "Hoffentlich unterstützt das Kabinett alles, was jetzt zu tun ist, damit unsere Leute rauskommen", sagt Ilan. "Wir glauben, dass sie uns hören. Sie werden uns verstehen, wenn sie uns noch einmal treffen. Das verlangen wir."

Im persönlichen Gespräch betonen viele Teilnehmer des Marsches, dass das hier eine unpolitische Solidaritätsaktion sei. Aber sie weisen auch darauf hin, dass einige der Organisationen auch schon bei dem großen Protestmarsch nach Jerusalem im Sommer dabei waren.

Damals ging es gegen den geplanten Umbau des Justizsystems - betrieben von Ministerpräsident Netanyahu und seinen nationalistischen, strengreligiösen und rechtsextremen Koalitionspartnern. Es ist gut möglich, dass aus der Solidarität für die Familien der Geiseln eine größere Protestbewegung gegen die Regierung wird.

Treffen vor Netanyahus Büro geplant

Orin freut sich über die vielen Unterstützer, die sich spontan dem Marsch der Familien anschließen. Manche kommen nur für ein paar Stunden, manche für den restlichen Weg zu Netanyahus Büro in Jerusalem. Dort könnten es am Wochenende eine halbe Million Menschen werden, glaubt Orin.

Sie wünscht sich momentan aber nur eines: "Ich will meine Tochter sehen. Bitte. Bringt sie nach Hause!"

Björn Dake, ARD Tel Aviv, tagesschau, 16.11.2023 20:55 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 16. November 2023 um 22:15 Uhr.