Einnahme von Grenzort Sudscha Wie der ukrainische Vormarsch in Russland läuft
Vor gut einer Woche haben Soldaten der ukrainischen Armee die Grenze zu Russland überschritten. Seitdem wird auf russischem Boden - in der Region Kursk - gekämpft. Derzeit im Fokus: die Kleinstadt Sudscha. Ein Überblick über die Entwicklungen.
Wie ist die Lage in Sudscha - und warum ist der Ort wichtig?
Die Ukraine meldet die vollständige Kontrolle über die 5.500-Einwohner-Stadt Sudscha. Armeechef Olexander Syrskyj erklärte gegenüber Präsident Wolodymir Selenskyj: "Die Suche und Vernichtung des Feindes in der Ortschaft Sudscha ist abgeschlossen." Das Fernsehen zeigte Aufnahmen, die in der grenznahen Kleinstadt entstanden sein sollen. Zu sehen waren ausgebrannte russische Militärfahrzeugkolonnen und ukrainische Soldaten, die Hilfsgüter an Ortsansässige verteilten und russische Flaggen von Verwaltungsgebäuden entfernten.
Sudscha hat für die Ukrainer besondere Bedeutung, weil dort die letzte Gasverteilstation steht, über die Russland Gas aus Westsibirien via Ukraine in die Slowakei und Österreich liefert - und zwar trotz des Krieges. So wurden 2023 noch auf diesem Weg 14,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas in die Europäische Union befördert.
Da unklar ist, ob die wichtige Gas-Infrastruktur die anhaltenden Kampfhandlungen unbeschadet übersteht oder der russische Gazprom-Konzern den Export komplett einstellt, stieg in den vergangenen Tagen der Gaspreis wieder. Aktuell kostet eine Megawattstunde rund 40 Euro - so viel, wie seit Dezember nicht mehr.
Wie kommt der ukrainische Vormarsch voran?
Seit Tagen meldet die Ukraine Geländegewinne im Oblast Kursk. Inzwischen hat die Armee nach eigenen Angaben dort mehr als 1.000 Quadratkilometer russisches Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. Präsident Selenskyj erklärte am Montag, dass insgesamt 74 russische Ortschaften von der Ukraine kontrolliert würden. Der russische Gouverneur von Kursk sprach dagegen von zwei Dutzend eingenommenen Orten.
In der Region steht unter anderem ein für Russland wichtiges Atomkraftwerk, das aber noch von russischen Soldaten gehalten wird.
Die Ukraine nahm nach eigener Darstellung zahlreiche russische Soldaten in der Region gefangen. Zuletzt sprach Armeechef Syrskyj von 100 Gefangenen. Unabhängig überprüfen lässt sich dies allerdings nicht.
Nach Angaben des russischen Gouverneurs von Kursk sind bislang mindestens zwölf Menschen bei Gefechten und Luftangriffen getötet worden, weitere 121 wurden demnach verletzt. Bis zum Montag wurden nach Behördenangaben mehr als 120.000 Menschen aus der Region evakuiert.
Ebenfalls unter Druck steht die Nachbarregion Belgorod. Dort wurde - ebenso wie in Kursk - der Notstand ausgerufen, Menschen wurden auch hier in Sicherheit gebracht. Die Behörden melden täglichen Beschuss durch die ukrainische Armee.
Wie reagiert Russland?
Zumindest im Moment scheint Russland in der Region in der Defensive zu sein. Russlands Präsident Wladimir Putin nannte die Offensive eine "groß angelegte Provokation" im Auftrag des Westens und ordnete die Entsendung weiterer Truppen an. Zuletzt berichtete der litauische Verteidigungsminister Laurynas Kasciunas, dass Moskau einen Teil seiner Truppen aus der Ostsee-Exklave Kaliningrad abziehe.
Allerdings sind diese Truppen offenbar noch nicht in der Region Kursk angekommen. Beobachter vermuten daher, dass es Russland an schnell verlegbaren Kräften fehle: "Wichtig ist, dass Russland nicht über vorbereitete Reserven verfügt, die irgendwo bereitstehen. Es gibt keine strategischen Reserven", erklärte etwa der Militärexperte Jurij Fedorow.
Ählich sieht das Militärexperte Nico Lange. Im Deutschlandfunk erklärte er, die russische Armee sei offensichtlich nicht in der Lage, ihre Gegenwehr effektiv zu organisieren. Grund dafür könnten neben dem Überraschungsmoment auch die starren Befehlsstrukturen in der russischen Armee sein. Diese reagiere nur sehr schwerfällig auf dynamische Ereignisse. Das zeige auch, dass die "unendliche Stärke Russlands ein Mythos ist".
Warum führt die Ukraine die Offensive durch?
Der ukrainische Präsident Selenskyj begründete den Einsatz einerseits mit dem Schutz der direkt angrenzenden ukrainischen Region Sumy. Diese sei in den vergangenen Monaten Ziel massiver Angriffe gewesen - Ziel der ukrainischen Armee sei es daher, die Grenzregion vom russischen Militär "zu befreien" und russische Militär-Infrastruktur zu zerstören.
Langfristig besetzen wolle man die Region aber nicht, hieß es aus Kiew. Vielmehr strebe man die Einrichtung einer "Pufferzone" an. "Die Errichtung einer Pufferzone in der Region Kursk ist ein Schritt zum Schutz unser Bevölkerung an der Grenze vor dem täglichen feindlichen Beschuss", erklärte der unkrainische Innenminister Ihor Klimenko. Außerdem wolle man einen Korridor einrichten, über den Russen und Ukrainer die Kampfzone sicher verlassen können.
Außerdem wolle man russische Kriegsgefangene machen, so Selenskyj weiter. Diese könnten dann gegen ukrainische Gefangene ausgetauscht werden. "Für uns ist es eine Frage des Prinzips, alle unsere Leute aus russischer Gefangenschaft zurückzuholen", so Selenskyj.
Schließlich erhofft sich Kiew durch die Offensive eine bessere Verhandlungsposition: Wenn Putin so dringend weiter Krieg führen will, muss Russland zum Frieden gezwungen werden", sagte der ukrainische Präsident.
Nach Einschätzung von Litauens Verteidigungsminister Kasciunas ist zudem der motivierende Effekt auf die Ukraine und ihre Armee nicht zu unterschätzen: "Zuallererst ist es ein moralischer Auftrieb, der natürlich sehr wichtig ist", sagte er.
Welche Chancen, welche Risiken gibt es?
Die Offensive auf russischem Boden könnte die ukrainischen Soldaten an der Front im Osten des Landes entlasten. Denn Russland zieht nach Angaben von Militär-Beobachtern Truppen aus der umkämpften Donzek-Region ab, um den ukrainischen Vormarsch in Kursk zu stoppen. Dass die russischen Angriffe, etwa mit Gleitbomben, sich jetzt auf russisches Gebiet verlagerten, sei bereits ein Erfolg, so Militärexperte Lange.
Allerdings kann auch der gegenteilige Fall eintreten, nämlich dass die Ukraine mit ihrem Vorstoß Kräfte bindet, die dringend im Osten des Landes benötigt werden. "Schlechtestenfalls würde der Angriff eine Verlagerung der Probleme darstellen, die sich an anderen Frontabschnitten manifestiert haben: die fehlende Infanterie, die fehlenden Personalreserven. Hier zieht diese Aktion womöglich sogar den Ukrainern wichtige Reserven ab, die im Donbass um Tschassiw Jar und Pokrowsk benötigt werden", sagte etwa Militärberater Franz-Stefan Gady im Interview mit tagesschau.de.
Auch Experte Lange betont, dass im Osten der Ukraine Russland weiter Fortschritte macht. Vor allem bei Pokrowsk sei die Lage für die Ukraine schwierig. Insofern stelle die ukrainische Offensive beide Seiten vor ein Dilemma.