Krieg in der Ukraine Vorbereitungen auf russische Offensive im Osten
Die Ukraine rechnet mit Kämpfen im Osten. Mancherorts ziehen russische Truppen ab, doch dafür nehmen Luftangriffe um Kiew laut der Ukraine wieder zu. Mariupol hofft auf eine Evakuierung am Freitag.
Die Ukraine bereitet sich auf neue russische Großoffensiven im Osten und Süden des Landes vor. Russland positioniere seine Einheiten in der Ukraine neu und versuche "höchstwahrscheinlich", seinen Einsatz im Donbass zu verstärken, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Zu erwarten seien "Offensivaktionen, die noch mehr Leid verursachen werden". Ähnlich äußerte sich der ukrainische General Pawlo "Maestro" in Charkiw. Die russische Armee stelle sich neu auf, "um ihre maximalen Kräfte in der Süd- und Ostukraine einzusetzen."
Kiew weiter aus der Luft gefährdet
Gleichzeitig warnte Stoltenberg vor einem anhaltenden Druck Russlands auf Kiew im Norden des Landes und andere Städte. Nach Einschätzung der US-Regierung ist die ukrainische Hauptstadt weiter stark durch russische Luftangriffe gefährdet. Russlands Gerede von Deeskalation sei "schöne Rhetorik", sagte ein hochrangiger Pentagon-Vertreter. "Aber es bedeutet nicht, dass die Bedrohung aus der Luft weniger wird." In den vergangenen 24 Stunden sei die Zahl der Lufteinsätze deutlich erhöht worden. Die Angriffe konzentrierten sich vor allem auf Kiew oder auch Tschernihiw.
Ein Konvoi, der Zivilisten aus der belagerten nordukrainischen Stadt Tschernihiw in Sicherheit bringen sollte, wurde nach ukrainischen Angaben beschossen. Ein Mensch sei getötet und vier weitere seien schwer verletzt worden, sagte die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denissowa. Den russischen Truppen warf sie vor, jegliche Evakuierungsversuche zu verhindern. Zehntausende Zivilisten säßen deshalb in Tschernihiw "ohne Nahrung, Wasser und Heizung" fest.
Russische Soldaten aus Tschernobyl abgezogen
Nach ukrainischen Angaben haben die russischen Truppen nach wochenlanger Besetzung die Atomruine Tschernobyl verlassen. "Es sind keine Außenstehenden mehr auf dem Gebiet des Atomkraftwerks Tschernobyl", teilte die für das Sperrgebiet im Norden der Ukraine zuständige ukrainische Behörde am Abend auf Facebook mit. Am Nachmittag hatte bereits der ukrainische Atomenergiekonzern Energoatom den Beginn des Rückzugs der russischen Soldaten aus der Zone um die Atomruine gemeldet.
Russische Soldaten hätten "Ausrüstung und andere Wertgegenstände" aus der stillgelegten Atomanlage gestohlen, erklärte die für das Sperrgebiet zuständige Behörde. Ukrainische Spezialisten würden nun auf das Gelände geschickt, um es auf "potenzielle Sprengkörper" hin zu durchkämmen.
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA kündigte an, in den nächsten Tagen eine Unterstützungsmission nach Tschernobyl entsenden zu wollen, um den ukrainischen Behörden zu helfen.
Hoffen auf Evakuierung von Mariupol
Unterdessen gibt es Hoffnung, dass am Freitag ein Konvoi mit Hilfsgütern das belagerte Mariupol erreichen könnte. Am Donnerstagabend waren die Lkw des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in der etwa 200 Kilometer entfernten Stadt Saporischschja angekommen, teilte das IKRK mit. Außerdem sind 45 Busse der ukrainischen Regierung ebenfalls auf dem Weg in Richtung Mariupol, um Menschen aus der Stadt zu bringen. Das IKRK hoffe, dass die Evakuierung am Freitag stattfinden und vom Roten Kreuz begleitet werden könne. Dazu müssten aber alle Seiten den genauen Bedingungen zu Route und Beginn der Evakuierungsaktion zustimmen, teilte das IKRK in seinem abendlichen Update mit.
"Es ist lebenswichtig, dass dieser Einsatz stattfinden kann. Das Leben zehntausender Menschen in Mariupol hängt davon ab", mahnte die Organisation. Mehrere Evakuierungsversuche für Mariupol scheiterten bereits. Die humanitäre Situation in der weitgehend zerstörten Stadt ist weiterhin katastrophal. "Es ist die Hölle. Es ist eine Katastrophe, von der jeder weiß, die ganze Welt", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videorede an das belgische Parlament.
Noch etwa 160.000 Einwohner befinden sich in dem seit Wochen von jeglicher Versorgung abgeschnittenen und von den russischen Streitkräften heftig beschossenen Ort. Nach ukrainischen Angaben wurden seit Beginn des russischen Angriffskrieges in Mariupol bereits mindestens 5000 Menschen getötet. Die Behörden der Hafenstadt werfen Russland zudem vor, mehr als 20.000 Einwohner der Stadt "gegen ihren Willen" nach Russland gebracht zu haben.
Separatisten melden Geländegewinne im Donbass
Unklarheit herrschte am Donnerstag über die Lage im ostukrainischen Donbass. Die prorussischen Separatisten in der Region meldeten wichtige Gebietsgewinne. So seien mehr als 90 Prozent des Bezirks Luhansk "befreit" worden. Der Bezirk Donezk werde zu mehr als der Hälfte von den prorussischen Kräften kontrolliert. Vor dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar hatten die Separatisten jeweils rund ein Drittel der Regionen Donezk und Luhansk kontrolliert.
Russland hatte kürzlich die Eroberung der ostukrainischen Gebiete zur Priorität seines Einsatzes in der Ukraine erklärt. Militärexperten werten dies als Beleg dafür, dass Russland angesichts von tausenden getöteten und verletzten Soldaten keine andere Wahl hat, als die Bemühungen um einen gleichzeitigen Vormarsch entlang mehrerer Achsen im Norden, Osten und Süden aufzugeben.