Krieg in der Ukraine Moskau will Fluchtkorridor aus Mariupol öffnen
Russland hat angekündigt, einen Fluchtkorridor aus der umkämpften Hafenstadt Mariupol zu öffnen. Ob die Evakuierung gelingt, ist jedoch unklar. Die Ukraine rechnet mit noch härteren Gefechten im Osten und Süden des Landes.
Im Ukraine-Krieg wird die Hoffnung auf eine Evakuierungsaktion für Zivilisten aus Mariupol durch die Furcht vor noch heftigeren Attacken der russischen Armee überschattet. Zwar soll nach russischen Angaben heute ein humanitärer Korridor aus der Hafenstadt geöffnet werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte jedoch in der Nacht vor "gewaltigen Angriffen" Russlands auf Mariupol und andere Orte.
Busse für Evakuierung angeblich schon gestoppt
Das russische Verteidigungsministerium hatte gestern erklärt, der humanitäre Korridor von Mariupol ins 220 Kilometer entfernte Saporischschja werde um 10.00 Uhr Ortszeit (09.00 Uhr MESZ) "wieder geöffnet". Die Maßnahme folge einem "persönlichen Appell" von Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an Kreml-Chef Wladimir Putin. Sie solle "unter direkter Beteiligung von Vertretern des UN-Flüchtlingskommissars und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)" umgesetzt werden.
Das IKRK beabsichtigt, in 45 Bussen zahlreiche Menschen aus Mariupol herauszuholen und zugleich zwei Lastwagen voller Hilfsgüter in der belagerten Stadt zu entladen. In Mariupol sind seit Wochen Zehntausende Zivilisten von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Die humanitäre Situation in der Stadt wird von Hilfsorganisationen als katastrophal beschrieben. Evakuierungsversuche waren in den vergangenen Wochen mehrfach gescheitert.
Allerdings ist fraglich, ob die Busse überhaupt nach Mariupol gelangen. Der Konvoi sei schon am Abend bei Berdjansk, etwa 75 Kilometer westlich von Mariupol, von russischen Soldaten aufgehalten und nicht bis in die Stadt vorgelassen worden, teilte die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am späten Abend mit. Russische Streitkräfte hätten zudem zwölf ukrainische Busse gestoppt, die mit Hilfsgütern beladen auf dem Weg von Melitopol nach Mariupol gewesen seien. Die Soldaten hätten 14 Tonnen Lebensmittel und Medikamente beschlagnahmt, erklärte sie.
Neue russische Offensiven im Osten und Süden erwartet
Zudem müssen sich Mariupol und weitere Orte im Osten und Süden der Ukraine nach Einschätzung von Präsident Selenskyj auf noch heftigere Angriffe Russlands einstellen. Dass die russische Regierung angekündigt habe, die Angriffe auf Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurückzufahren, sei "Teil ihrer Taktik", sagte Selenskyj in der Nacht in einer Rede. Die russische Armee wolle sich auf andere wichtige Gebiete konzentrieren, "in denen es schwierig für uns sein kann". Im Donbass, in Mariupol und der Gegend um Charkiw seien "gewaltige Angriffe" zu befürchten.
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, Russland positioniere seine Einheiten in der Ukraine neu und versuche "höchstwahrscheinlich", seinen Einsatz im Donbass zu verstärken. Zu erwarten seien "Offensivaktionen, die noch mehr Leid verursachen werden". Ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidungsministeriums warnte, dass sich Russland nun auf den Donbass konzentriere, könne zu einem "noch länger anhaltenden Konflikt" führen.
Ukraine meldet Rückeroberungen
Ukrainische Truppen haben nach eigenen Angaben elf Siedlungen im südukrainischen Gebiet Cherson zurückerobert. Beim Vormarsch im Norden der Region sei ihnen auch schwere russische Militärtechnik in die Hände gefallen, darunter Panzer vom Typ T-64, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Dank des Erfolgs könnten die Einwohnerinnen und Einwohner nun Lebensmittel und Medikamente erhalten. Die Zivilbevölkerung habe die ukrainischen Kräfte freudig begrüßt.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs konnten die russischen Einheiten an keiner Stelle im Land Geländegewinne verzeichnen. Die ostukrainische Großstadt Charkiw werde weiter beschossen, ein Durchbruchsversuch nahe der Stadt Isjum sei aber gescheitert. Auch ein russischer Vorstoß im südukrainischen Gebiet Mykolajiw sei nicht erfolgreich gewesen. Im Norden hätten sich einige russische Einheiten zurückgezogen.
Lage in Kiew entspannt sich offenbar etwas
Die Lage in der Hauptstadt Kiew hat sich nach Angaben des Stadtkommandanten etwas entspannt. "Dank der standhaften Verteidigung und der heldenhaften Aktionen unserer Truppen verbessert sich die Situation rund um die Stadt", hieß es in einer Mitteilung von General Mykola Schyrnow. In den Außenbezirken der Stadt werde aber weiterhin gekämpft.
Gleichzeitig warnte NATO-Chef Stoltenberg vor einem anhaltenden Druck Russlands auf Kiew und andere Städte im Norden des Landes. Nach Einschätzung der US-Regierung ist die ukrainische Hauptstadt weiter stark durch russische Luftangriffe gefährdet. Russlands Gerede von Deeskalation sei "schöne Rhetorik", sagte ein hochrangiger Pentagon-Vertreter. "Aber es bedeutet nicht, dass die Bedrohung aus der Luft weniger wird." In den vergangenen 24 Stunden sei die Zahl der Lufteinsätze deutlich erhöht worden.