UNDP-Chef Steiner "Angst wird zu einem politischen Gift"
Erstmals unterstützt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung Politiker und Parteien, die demokratische Regeln missachten. Die UN-Entwicklungsagentur UNDP warnt vor dieser Entwicklung. Ihr Chef Achim Steiner sagt: "Die Welt driftet auseinander."
ARD: Die Vereinten Nationen halten mit ihrem Bericht jedes Jahr das Thermometer an den Zustand der Welt, also Gesundheit, Bildung, Lebensstandard, aber auch gesellschaftliche Tendenzen. In diesem Jahr geht der Report noch tiefer. Er trägt den auffordernden Titel: "Den Stillstand brechen. Zusammenarbeit in einer polarisierten Welt neu denken." Warum dieses Signal?
Achim Steiner: Nun, weil es heute in vieler Hinsicht, wenn wir uns die großen Risiken anschauen, viele rote Lichter gibt. Die Welt driftet im Augenblick auseinander. Geopolitische Spannungen, mehr Konflikte, mehr Flüchtlinge, wirtschaftliche Krisen - Entwicklung leidet im Augenblick in vielen Teilen der Welt unter dieser Zerrissenheit.
Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten bewegen wir uns auseinander in der Welt, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht. Und damit verbunden eben auch: Wir haben lange nicht so eine politische Polarisierung, das Auseinanderdriften, Populismus, Radikalisierung in der Welt erlebt. Demokratie ist etwas, was sich im Grunde jeder für sich wünscht.
Aber in fast 50 Prozent der Länder wählen Menschen Parteien und politische Führungen, die die Demokratie zum Teil demontieren. Das ist ein sehr gefährlicher und auch ein sehr besorgniserregender Moment. Deswegen ist dieser Bericht zur menschlichen Entwicklung auch ein Versuch zu verstehen: Was geschieht mit uns im Augenblick, in unseren Ländern und als internationale Gemeinschaft?
"Auf einmal ist unser Nachbar unser Feind"
ARD: Was geschieht denn? Wo beginnt Spaltung und der Trend zur Demokratiefeindlichkeit?
Steiner: Ich glaube, zwei Begriffe sind sehr schnell für jeden erkennbar. Wir leben in einer Zeit, in der sehr vieles nicht mehr so läuft, wie wir es vielleicht erwartet hätten. Unsicherheit und Angst prägen heute die Wahrnehmung vieler Menschen auf der ganzen Welt, ob in entwickelten Staaten oder in Entwicklungsländern. Diese Unsicherheit über die Zukunft schafft die Voraussetzung dafür, dass Angst auf einmal zu einer Art politischem Gift in unserem politischen Diskurs wird. Auf einmal ist unser Nachbar der Feind. Die Bedrohung kommt von außen und vieles, was dann mit dem Populismus in unserer Demokratie geschieht, ist: Man wendet sich nach innen und man verteidigt sich nach außen.
In vielen Ländern erleben wir heute: Die Menschen unterstützen die Demokratie. Wer will nicht seine Politiker auswählen. Aber zunehmend wählen Menschen Politiker und politische Parteien, die genau diese Demokratie aushöhlen. Und das müssen wir nun angehen. Denn zum einen ist es eine Illusion, sich im 21. Jahrhundert nur auf sich selbst besinnen zu können. Wir leben in einer Welt, die voneinander abhängig ist. Unsere eigene Zukunft ist genauso abhängig von dem, was im eigenen Land politisch und wirtschaftlich passiert, wie in einem Land, das vielleicht 5000 Kilometer entfernt Entscheidungen trifft.
Ob das die nächste Pandemie ist, ob das der Klimawandel ist, ob das die Digitalisierung ist und auch die Risiken, die zum Beispiel mit der Digitalisierung, mit Künstlicher Intelligenz kommen. Cyber Warfare, Kriminalität im Cyberspace - das sind alles Dinge, die können wir nicht als Länder alleine und isoliert bewältigen.
Und trotzdem führt uns der Populismus genau in die Richtung. Deswegen sagt der Bericht: Die großen Risiken unserer Zeit sind nicht immer und meistens darauf reduziert, ob ein Land ein anderes angreift, sondern wir müssen die Zukunft in einem erweiterten Sicherheitsverständnis betrachten. Das bedeutet eben auch, miteinander zusammenzuarbeiten, wenn man nicht unbedingt immer einer Meinung ist. Und vor allem müssen wir es schaffen, dass Populismus letztlich uns nicht die Fähigkeit nimmt, mit anderen zusammenarbeiten zu können.
"Die Diskussion beginnt in jedem einzelnen Land"
ARD: Wie kann das gelingen, auch angesichts der gegenwärtigen großen Krisen und Konflikte? Schlägt der Bericht auch Lösungen vor?
Steiner: Zum einen müssen wir in unseren eigenen Ländern beginnen, ich würde fast sagen: am Küchentisch, im Wohnzimmer, in den Schulen, in den öffentlichen Diskussionen. Denn dort wird im Augenblick sehr viel Desinformation in die politische Diskussion eingebracht. Feindbilder, Angst, Furcht - das sind alles Mittel, um Menschen gegeneinander aufzubringen. Und ich glaube, manchmal verliert die Wahrheit und auch die Information sehr viel Freiraum in diesem Moment. Deswegen: Die Diskussion über das, was wir international machen wollen, müssen und können, beginnt letztlich in jedem einzelnen Land. Das ist das eine.
Das zweite ist: Wir müssen auch stärker ineinander investieren können. Das mag erst einmal überraschen. Aber Klimawandel, der Übergang zu erneuerbaren Energien, Infrastruktur, auch die Vorbereitung auf die nächste Pandemie - da können reicheren Länder erst einmal den ärmeren Ländern zur Seite stehen. Sie können mit investieren. Und das ist nicht nur Entwicklungshilfe, sondern es ist eben auch das Investieren in das, was der Bericht ja sehr stark heraushebt, nämlich die globalen Güter, die wir alle in der Welt miteinander teilen, aber die im Augenblick in großer Gefahr sind.
"Deutschland hat an Boden gewonnen"
ARD: Wie steht Deutschland im Ranking der 193 Länder und Territorien da, die der Bericht zur menschlichen Entwicklung erfasst?
Steiner: Deutschland gehört mit zu den reichsten Ländern der Welt. Deutschland ist letztes Jahr drittgrößte Volkswirtschaft in der Welt gewesen. Daher überrascht es erst einmal nicht, dass Deutschland sehr gut unter den Top Ten ist. (Anm. der Red: Deutschland steht auf Rang 7).
Was vielleicht auch interessant ist, dass Deutschland es vor allem mit konsequenter Energie- und Umweltpolitik geschafft hat, sein Wirtschaftswachstum zunehmend von negativen Umweltauswirkungen abzukoppeln. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern hat Deutschland hier an Boden gewonnen und daher ist auch dieser UNDP-Report sicherlich ein Anreiz, dass Deutschland hier weiter eine Führungsrolle für sich selbst, aber auch für die internationale Gemeinschaft spielen kann.
Das Gespräch führte Antje Passenheim, ARD New York. Das Gespräch wurde für die schriftliche Fassung angepasst.