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Europawahl 2024

Franz Müntefering und weitere SPD-Politiker bei der Spargelfahrt.
analyse

SPD vor der Europawahl Die Brandmauer gegen rechts als Wahlkampfthema

Stand: 05.06.2024 10:30 Uhr

Im Europawahlkampf positioniert sich die SPD klar gegen Rechtsextremismus. Doch als moralische Instanz kann sich in der Partei vor allem einer profilieren: Ex-Parteichef Müntefering.

Eine Analyse von Moritz Rödle, ARD Berlin

Auf einmal ist es ganz still im Publikum. Da, wo Augenblicke zuvor noch lebhafte Gespräche manche Rede störten, lauschen jetzt alle den Worten von Ex-Parteichef Franz Müntefering. Der 84-Jährige ist gerade von einer schweren Krankheit genesen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit ist er bei einer SPD-Veranstaltung vor Ort.

In seiner Rede spricht Müntefering von seiner Kindheit, den Anfängen der europäischen Idee und dem Wert der Demokratie. Damals, als nur wenige Jahre nach dem Krieg plötzlich Franzosen, Belgier, Niederländer und Luxemburger den Deutschen gesagt hätten: "Wir wollen eure Freunde sein."

Er habe das damals kaum glauben können, so Müntefering. Nun gelte es, das Erreichte zu verteidigen. Er sei stolz auf seine Partei, dass diese für Demokratie, Europa und gegen rechts kämpfe. Man dürfe sich nicht zurückdrängen lassen auf nationalistische Ideen.

Die SPD als Brandmauer gegen rechts

Müntefering ist eine der wenigen moralischen Instanzen in der SPD. Seine Worte haben immer noch Gewicht. Mit seiner Rede trifft er genau den Ton, den die Parteiführung für den Europawahlkampf ausgegeben hat: die SPD als Brandmauer gegen rechts.

Auch in der Rede des Bundeskanzlers ist das ein wichtiges Motiv. Olaf Scholz sendet eine Warnung an die deutsche Kommissionspräsidentin und CDU-Politikerin Ursula von der Leyen. Er stehe zum Spitzenkandidatenprinzip, nach dem die bei der Europawahl stärkste Parteienfamilie den Posten an der Spitze der EU-Kommission besetzen dürfe.

Aber es müsse klar sein, dass sich eine Kommissionspräsidentin oder ein Kommissionspräsident immer auf die demokratischen Parteien Europas stütze. Es dürften keine rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien dabei sein.

Die Warnung hat einen Grund. Die konservative Parteienfamilie, zu der auch CDU und CSU gehören, hat nicht ausgeschlossen, dass von der Leyen auch mit den Stimmen etwa der italienischen Rechtsaußenparteien von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gewählt werden könnte.

Wahlkampfthema entdeckt

SPD-Parteichef Lars Klingbeil versucht deshalb, in seiner Rede auch CDU-Parteichef Friedrich Merz unter Druck zu setzen. Er erwarte in dieser Woche eine klare Aussage, wie Merz in der Frage stehe. 

Die SPD hat ein Wahlkampfthema entdeckt. Der Kampf gegen rechts ist eines der Leitmotive der Europawahlkampagne der Partei. Auch bei der großen Wahlkampfkundgebung am vergangenen Samstag in Leipzig hat Scholz davon gesprochen und viel Beifall bekommen.

Trotzdem zündet die Kampagne der Sozialdemokraten nicht richtig. Im aktuellen ARD-Deutschlandtrend liegt die SPD bei 15 Prozent, knapp vor Grünen und AfD und deutlich hinter der Union. Das interne Ziel bei der Wahl am kommenden Sonntag ist Platz zwei, außerdem will man mehr Stimmenanteile holen als 2019. Damals hatte die Partei mit nur 15,8 Prozent ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren.

Wenig ambitioniertes Wahlziel

Doch was passiert, wenn das eh schon wenig ambitionierte Wahlziel verpasst wird? Eine negative Dynamik könne schnell entstehen, sagt ein erfahrener Abgeordneter dem ARD-Hauptstadtstudio.

2019 hat das die damalige Parteichefin Andrea Nahles zu spüren bekommen. Nur sechs Tage nach der Wahl musste Nahles zurücktreten.

Allerdings war die damalige Parteichefin schon vorher angeschlagen. Die Position von Scholz ist eine andere. Kaum jemand in der SPD stellt seine Autorität in Frage. Fraktion und Partei stehen weitgehend geschlossen hinter dem Bundeskanzler.

Hier und da wird vielleicht die Faust in der Tasche geballt, aber öffentlich den Kanzler angreifen, das ist in der aktuellen SPD nahezu ausgeschlossen. Scholz sitzt wohl auch nach der Wahl fest im Sattel.

Verteidigungsminister Pistorius sehr beliebt

Dass überhaupt über alternative Modelle wie zum Beispiel über einen Wechsel von Scholz zu Boris Pistorius diskutiert wird, liegt zum einen an den stabil guten Beliebtheitswerten des Bundesverteidigungsministers aber auch an Ex-Parteichef Müntefering. In einem Interview mit dem Spiegel vor rund zwei Wochen hatte der ehemalige Vizekanzler die Frage offengelassen, ob die SPD nicht auch auf einen Spitzenkandidaten Pistorius setzen könnte. Die SPD-Spitze war nicht amüsiert.

Beim Treffen am Dienstag wiederholt Müntefering seine Worte zu Pistorius nicht noch einmal. Die offizielle Sprachregelung: Müntefering habe nur ausdrücken wollen, dass die Entscheidung rein rechtlich noch nicht gefallen sei. Das stimmt auch.

Mangel an moralischen Instanzen

Generalsekretär Kevin Kühnert hatte erst im April gesagt, dass man Scholz erst im Sommer 2025 offiziell zum Kanzlerkandidaten nominieren wolle. Da bei der SPD aber personelle Klarheit herrsche, sei das problemlos möglich.

In der SPD hofft man nun, dass Münteferings Vorstoß wirklich einmalig war. Doch verlassen kann sich die Partei darauf nicht. In seiner Rede sagte Müntefering, er freue sich darauf, auch in den kommenden Jahren dabei zu sein. Er habe nach seiner schweren Krankheit nun eine Nachspielzeit bekommen, die er nutzen wolle.

Am Ende der Rede gibt es Standing Ovations für den 84-Jährigen. Der SPD mangelt es an moralischen Instanzen. Die Genossinnen und Genossen sind froh, Müntefering zu haben.