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Europawahl 2024

Ursula von der Leyen
Europawahl

Kommissionschefin von der Leyen Die Wandelbare

Stand: 06.06.2024 06:20 Uhr

Als Kommissionspräsidentin hat Ursula von der Leyen die EU durch gravierende Krisen führen müssen. Die CDU-Politikerin hat sich dabei als machtbewusst und als flexibel erwiesen - auch was ihre Kernthemen betrifft.

Auch wenn es ein verregneter Tag ist - als der Spitzenverband der europäischen Rüstungsindustrie im April sein Jahrestreffen in Brüssel abhält, ist die Stimmung prächtig.

Seit Russlands Aggression gegen die Ukraine stocken die Staaten des Westens ihre Verteidigungshaushalte auf, die Auftragsbücher der Rüstungsunternehmen sind voll wie nie zuvor. Englische, spanische und französische Satzfetzen schwirren durch den Raum. Die Teilnehmer sind zu 95 Prozent männlich.

Routiniert in eine neue Zeit

Aber für die schmale Frau im roten Blazer machen sie alle den Weg frei. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betritt den Saal, lächelnd, aufrecht, und auch als der Beginn ihrer Rede von Pro-Palästina-Protesten gestört wird, macht sie unbeirrt weiter.

Hier strömt jemand Standfestigkeit und Disziplin bis in die Haarspitzen aus - und eine Aura von Macht.

Gewohnt routiniert breitet die deutsche Christdemokratin vor den Rüstungsmanagern die neue europäische Verteidigungspolitik aus, natürlich auf Englisch.

"Wir brauchen eine neue europäisches Einstellung zur Verteidigung, eine neue Einstellung für die Länder, die Institutionen, die Industrie und Investoren", bekräftigt von der Leyen vor den Managern.

Immer wieder nach Kiew

Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Frage nach der Sicherheit Europas hat ihre Politik seit 2022 geprägt. Wohl kaum eine andere europäische Politikerin zeigt so ein inniges Verhältnis zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Sieben Mal hat sie die Ukraine besucht, seit es von Russland überfallen wurde.

Von der Leyens Versprechen an das Land lautet: Unterstützung für die Ukraine, solange es nötig ist: "Unsicherheit, ein Sieg Russlands würde so viel mehr kosten als das, was wir jetzt ausgeben", sagte sie.

Nicht alle Länder folgen ihr dabei. Ungarn bremst immer wieder bei Hilfspaketen, bedient nach Ansicht von Kritikern russische Interessen. Für die südeuropäischen EU-Staaten ist die Ukraine weit entfernt. Sie sind kaum bereit, etwas von ihren Militärbeständen abzugeben.

Das Ringen um die Sicherheit und den Zusammenhalt Europas, das zunehmende politische und wirtschaftliche Kräftemessen mit China - es sind weltpolitische Herausforderungen, denen die EU und die Kommission mit von der Leyen an der Spitze ausgesetzt sind.

"Sofa-Gate" - ein einmaliges Ereignis

Ursula von der Leyen hat in den vergangen Jahren gelernt, sich in diesen Situationen nicht mehr irritieren und beiseite schieben zu lassen. Ein "Sofa-Gate" wäre heute undenkbar.

Bei einem Besuch beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan im April 2021 - sie war gerade zwei Jahre im Amt - nahm ihr EU-Ratspräsident Charles Michel den einzig freien Stuhl weg. Sie musste wie eine Assistentin auf dem Sofa Platz nehmen.

Heute gilt Michel als politischer Tollpatsch, der dringend einen neuen Job sucht. Von der Leyen hat sich dagegen als das Gesicht der EU-Kommission etabliert und dem Amt eine andere Autorität verliehen.

Von der Leyen und Michel sitzen in Ankara (Türkei) mit Erdogan und Cavusoglu zusammen

In Ankara musste von der Leyen 2021 auf dem Sofa Platz nehmen, während Michel sich auf den Stuhl neben Erdogan setzte.

Das einstige Kernthema ist nach hinten gerückt

Zum Umgang mit und zum Ausüben von Macht gehören Wille, Ausdauer - und Anpassungsfähigkeit. Die wohl größte Anpassung, die sie in den letzten Jahren vollzogen hat, vollzog sich weg von der Umwelt hin zur Wirtschaft.

Bei ihrer Bewerbungsrede zur EU-Kommissionpräsidentin im Jahr 2019 hieß es noch: "Unsere dringendste Herausforderung ist es, unseren Planeten gesund zu halten." Mit einem "Green Deal" wollte sie Europas Industrien bis 2050 klimaneutral machen, ein Vorhaben, das sie selbstbewusst mit der Mondlandung verglich.

Fünf Jahre später setzte sie bei ihrer erneuten Nominierung als Spitzenkandidatin andere Akzente:

"Wir müssen Geschäfte einfacher machen, wir müssen unseren Unternehmen mehr vertrauen. Das heißt: weniger Bürokratie, weniger Nachweise, schnellere Verfahren." 

Kompromissbereit für die Spitzenkandidatur

Statt klimaneutraler Umbau Entlastungen für die Wirtschaft und die Bauern - diese Kröte musste von der Leyen schlucken, um von ihrer Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel erneut als Spitzenkandidatin aufgestellt zu werden.

Dafür bedankte sie sich artig bei Manfred Weber, dem mächtigen Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament, zu der auch die CDU/CSU gehört, und hob seine "exzellente Arbeit" hervor. Der klatschte daraufhin höflich.

Das Pikante an diesem Lob: Von der Leyen hatte Weber 2019 das Amt als Kommissionspräsidentin weggeschnappt - damals war er als Spitzenkandidat der EVP zur Europawahl angetreten, wurde aber nach der Wahl von den Staats- und Regierungschefs der EU beiseite geschoben.

Das kam für die Öffentlichkeit völlig überraschend - und möglicherweise auch für von der Leyen, die damals Bundesverteidigungsministerin war.

Vorwürfe während der Corona-Krise

In Brüssel beschäftigte die Kommission unter von der Leyen zunächst vor allem die Corona-Krise. Diese hinterließ einen Spritzer auf dem stets korrekt sitzenden Blazer der Kommissionspräsidentin.

Von der Leyen soll per SMS Impfstofflieferungen für mehrere Milliarden Euro mit dem damaligen Chef des Pharmakonzerns Pfizer ausgehandelt haben. Dagegen gibt es mehrere Klagen.

Bereit zur Kooperation mit der EKR-Fraktion?

In der heißen Phase des Wahlkampfs richtet sich der Blick auch auf von der Leyens Verhältnis zu den Parteien in der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR), die rechts von der EVP angesiedelt ist. Sie nannte drei Bedingungen, unter denen sie bereit sei, mit EKR-Abgeordneten zusammenzuarbeiten. Diese müssten pro Europa, pro Ukraine und pro Rechtsstaat sein.

Die CDU-Politikerin zeigte sich damit ein weiteres Mal politisch flexibel - riskiert aber auch einiges. Denn wenn sie im Amt bestätigt werden will, braucht sie am Ende des Verfahrens auch eine Mehrheit im EU-Parlament. Grüne, Sozialdemokraten, Linke und Liberale kritisierten sie aber für ihre Bereitschaft, mit EKR-Abgeordneten zu kooperieren, scharf.

Am Ende entscheiden die Staats- und Regierungschefs

Sollte von der Leyen noch einmal fünf Jahre die EU-Kommission führen, also eine Art Regierungschefin Europas werden, wäre sie am Ende der Legislaturperiode 70 Jahre alt. Ein enormes Arbeitspensum wird ihr nachgesagt. Geschlafen wird ebenfalls im Kommissionsgebäude; im brutalen Brüsseler Straßenverkehr soll keine wertvolle Sekunde verloren gehen.

Letztlich muss die 65-Jährige die 27 Staats- und Regierungschefs der EU davon überzeugen, sie nach der Wahl noch einmal zu nominieren. Welche Dynamik in diesem Prozess unterschiedliche Interessen entwickeln und zu überraschenden Entscheidungen führen können, weiß niemand besser als sie.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete WDR5 am 08. März 2024 um 20:04 Uhr.