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Folgen eines Dexits "Wirtschaftlicher Totalschaden"

Stand: 02.06.2024 08:02 Uhr

Für Deutschlands Wirtschaft und für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher sind die Vorteile der EU-Mitgliedschaft enorm. Wie würden die ökonomischen Folgen eines EU-Austrittes aussehen?

Von Thomas Spinnler, ARD-Finanzredaktion

Ökonomen und Politiker unterstreichen immer wieder die herausragende Bedeutung, die die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hat und weisen auf die Vorteile der EU für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher hin.

Auch eine Mehrheit der Deutschen sieht eher die Vorteile der EU. Doch welchen wirtschaftlichen Nutzen zieht Deutschland aus der EU-Mitgliedschaft?   

Deutschlands Handel innerhalb der EU

Aus ökonomischer Sicht liegt auf der Hand, dass Deutschland als Exportnation in besonderer Weise vom freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen insgesamt etwa 450 Millionen Einwohnern profitiert. Ungefähr jeder vierte deutsche Arbeitsplatz hängt vom Export ab.

Der europäische Binnenmarkt wird durch vier Faktoren bestimmt. Es ist zum einen der freie Verkehr der Waren, ohne den der Handel zwischen den Staaten mit Zöllen belegt wäre, die von den Verbrauchern zu zahlen wären. Hinzu kommen der freie Verkehr von Personen, von Dienstleistungen und der freie Verkehr des Kapitals.

Den größten Teil des deutschen Handelsvolumens, im Jahr 2023 waren es etwas mehr als 54 Prozent, wickelt Deutschland mit EU-Mitgliedern ab.

"Der wichtigste Markt für deutsche Produkte"

Deutschland profitiere von der EU über eine Reihe von Kanälen, unterstreicht Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, gegenüber tagesschau.de.

"Die EU ist der wichtigste Markt für deutsche Produkte, und dank der EU kann dorthin ohne Zölle, Kontrollen oder andere Handelshindernisse exportiert werden. Zugleich erlaubt die EU deutschen Unternehmen und deutschen Verbraucherinnen und Verbrauchern den einfachen und zollfreien Zugang zu günstigen Vorleistungen und Konsumgütern." Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte helfe Deutschland, den Mangel an Fachkräften - etwa bei der Pflege - zu mindern, so Dullien.

Auch aus Sicht des für die deutsche Wirtschaft so bedeutsamen Mittelstands ist die EU eine Erfolgsgeschichte: "Deutschland und seine mittelständisch geprägte Volkswirtschaft zählen zu den großen Gewinnern der Europäischen Union. Der EU-Binnenmarkt ist der Garant für Investitionen aus dem In- und Ausland und schafft für den Mittelstand den direkten Zugang zu fast 500 Millionen europäischen Konsumenten", betont Christoph Ahlhaus, Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) gegenüber tagesschau.de.

Vorteile der gemeinsamen Währung

Die Gemeinschaftswährung Euro, mit der etwa 350 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen, trägt ebenfalls zur für Deutschland positiven EU-Bilanz bei. 20 der 27 EU-Mitgliedsstaaten teilen in der Eurozone eine gemeinsame Währung.

Für Unternehmen wird der grenzübergreifende Handel dadurch deutlich erleichtert. Es fallen Transaktionskosten weg, die aufgewendet werden müssten, wenn jedes Land eine eigene Währung hätte.

Infolgedessen müssten die Verbraucher bei einem EU-Austritt insgesamt mit höheren Kosten und Preisen rechnen. Auch Währungsschwankungen, die Produkte verbilligen oder verteuern könnten, wären dann nicht mehr ausgeschlossen. Der Wegfall von Handelshindernissen und eine gemeinsame Währung kommen den Verbrauchern also direkt entgegen.

"690 Milliarden Euro Verlust nach fünf Jahren"

Wie groß die potenziellen ökonomischen Folgen eines Dexit sein könnten, haben unlängst die Ökonomen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) ausgerechnet. Aus ihrer Sicht wäre der mögliche Schaden beträchtlich: Die Forschenden nehmen an, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bereits nach fünf Jahren um rund 5,6 Prozent geringer ausfallen würde.

Der Verlust wäre vergleichbar mit dem der Corona- und Energiekrise zusammen, heißt es in der IW-Studie. Das IW beziffert den Verlust der Wertschöpfung in diesem Zeitraum auf 690 Milliarden Euro.

"2,5 Millionen Arbeitsplätze in Gefahr"

Auch die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt wären demnach riesig: Rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze gerieten in Gefahr, heißt es weiter. Das Fazit des IW lautet deshalb: Ein Austritt Deutschlands aus der EU und aus der Europäischen Währungsunion würde eine schwere ökonomische Krise und einen nachhaltigen Wohlstandsverlust der Bevölkerung in Deutschland auslösen.

Eine Untersuchung, die das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) durchgeführt hat, versucht die Kosten konkret zu beziffern, die auf den einzelnen Bürgen bei einem EU-Austritt anfallen würden.

Pro Person könnten sie demnach bis zu 5.000 Euro jährlich betragen. Nach Auffassung der Autoren würden deutsche Exporte in die EU-Staaten im Fall eines Austritts stark abnehmen. Der Handel mit Drittstaaten könnte die Verluste nicht ausgleichen, so die Einschätzung der Forschenden.

EU-Austritt wäre "wirtschaftlicher Totalschaden"

Ein Austritt aus der EU wäre für den Mittelstand und Deutschland insgesamt ein "wirtschaftlicher Totalschaden", stellt Mittelstands-Vertreter Ahlhaus fest. "Ein Dexit hätte weitreichende negative Auswirkungen auf Wachstum, Beschäftigung und damit den Wohlstand in Deutschland."

Und IMK-Direktor Dullien ergänzt: "Ein EU-Austritt Deutschland würde es für deutsche Unternehmen enorm erschweren und verteuern, in andere EU-Länder zu exportieren." Auch die viel kritisierte Bürokratie könnte eher zunehmen. "Der bürokratische Aufwand würde steigen, wenn Vorprodukte wie Teile für deutsche Autos aus anderen europäischen Ländern eingeführt würden."

Dullien zieht einen Vergleich zum EU-Austritt Großbritanniens: "Ökonomen sind sich heute einig, dass der Brexit für Großbritannien ein großer Fehler war und den Wohlstand der Briten deutlich gesenkt hat. Für Deutschland wären die Folgen eines EU-Austritts noch deutlich dramatischer, da Deutschland stärker mit den Nachbarländern wirtschaftlich verflochten ist als es Großbritannien vor dem Brexit war."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 13. Mai 2024 um 10:08 Uhr.