Debatte über die Grundsicherung Welche Folgen hat Bürgergeld für den Arbeitsmarkt?
Kaum ein Thema polarisiert so wie das Bürgergeld. Vor fast zwei Jahren wurde es eingeführt. Kritiker befürchteten zahlreiche Kündigungen. Wie hat sich die Situation bislang entwickelt?
Am ersten Januar 2023 wurde aus Hartz-IV Bürgergeld. Und nicht nur der Name der Grundsicherung änderte sich, die Reform brachte gleich mehrere Neuerungen. So stieg die Grundsicherung, eine Karenzzeit für Vermögen und Wohnkosten wurde eingeführt und Sanktionen abgemildert.
Während Befürworter sich dadurch erhofften, dass Menschen in der Grundsicherung durch die Änderungen in dauerhafte Jobs vermittelt werden, bemängelten Kritiker fehlende Anreize, um wieder eine Arbeit anzunehmen. Was ist an den Punkten dran?
Bürgergeld meist nicht direkt nach Kündigung
Eine oft verbreitete Befürchtung ist, dass durch das Bürgergeld viele Arbeitnehmer vor allem im Niedriglohnsektor kündigen würden, um Bürgergeld zu erhalten. Da es das Bürgergeld erst seit Januar 2023 gibt, lässt sich diese These nicht abschließend beurteilen. Denn nicht jeder erhält nach einer Kündigung direkt Arbeitslosengeld II. Erfüllt ein Arbeitnehmer gewisse Voraussetzungen, kann er bis zu 24 Monate nach einer Kündigung Arbeitslosengeld I erhalten. Arbeitslosengeld II kann dann im Anschluss an das Arbeitslosengeld I beantragt werden.
Arbeitslosengeld II, das frühere Hartz-IV und heutige Bürgergeld, wird auch als Grundsicherung bezeichnet. Während Arbeitslosengeld I aus der Arbeitslosenversicherung finanziert wird, kommt für die Grundsicherung der Staat auf.
Ein Anstieg - aber kein sprunghafter
Mit Blick auf die erwerbsfähigen Grundsicherungsempfänger - also diejenigen, die theoretisch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen - lässt sich kein starker sprunghafter Anstieg seit Einführung des Bürgergelds feststellen. So war das Niveau in den letzten Monaten des Jahres 2022 ähnlich hoch wie in den Monaten darauf, wie Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen.
Im Jahr 2024 lag der Wert bislang im April mit 4.017.682 erwerbsfähigen Bürgergeldempfängern am höchsten und damit etwa 1,82 Prozent über dem Höchstwert aus dem Vorjahr und 4,45 Prozent über dem Höchstwert im Jahr 2022 - vor der Einführung des Bürgergelds. Im Durchschnitt gab es im Jahr 2023 jedoch 5,69 Prozent mehr erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger als im Vorjahr, im Jahr 2024 noch einmal 1,76 Prozent mehr.
Allerdings gab es neben einigen Monaten im Coronajahr 2020 in den Jahren davor zum Teil deutlich mehr erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger. Insgesamt sind die Durchschnittswerte der beiden Jahre seit Einführung des Bürgergelds niedriger als alle Werte der Jahre 2005 bis 2018. Den höchsten Anstieg von einem Monat auf den anderen gab es in der jüngeren Vergangenheit im Juni 2022, da ukrainische Geflüchtete seitdem Grundsicherung erhalten können.
Großteil der Bürgergeldsempfänger arbeitslos
Doch nicht alle erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger sind auch arbeitslos. Zahlen der BA zeigen, dass es bei den arbeitslosen erwerbsfähigen Grundsicherungsempfängern von Dezember 2022 auf Januar 2023 einen Anstieg von etwa 3,74 Prozent auf 1.659.732 gab. Im ersten Halbjahr 2024 gab es einen weiteren Anstieg auf mehr als 1,74 Millionen. So viele waren es zuletzt Anfang 2017. Davor wiederum waren es teilweise mehr als zwei Millionen. Der Anteil erwerbstätiger Grundsicherungsempfänger lag im Jahr 2023 mit 20,3 Prozent auf dem niedrigsten Niveau seit 2007.
Die Bundesagentur für Arbeit weist jedoch daraufhin, dass die Zahlen eher auf die Migration aus der Ukraine und der wirtschaftlichen Situation zurückzuführen sind. Viele Änderungen im Bürgergeld würden erst über einen gewissen Zeitraum eine Wirkung entfalten.
Nehmen weniger Bürgergeldempfänger eine Arbeit an?
Eine weitere Möglichkeit, die Behauptung zu überprüfen, kann ein Blick auf die sogenannten Abgänge der Arbeitslosenstatistik bieten. Hier lässt sich entnehmen, wie viele erwerbsfähige Bürgergeldempfänger wieder eine Arbeit angenommen haben. Aus- oder Weiterbildungen werden dabei nicht hinzugezählt. Hier zeigt sich im ersten Jahr der Einführung des Bürgergelds ein Rückgang der Abgänge von Grundsicherungsempfängern, im laufenden Jahr sind die Zahlen jedoch wieder leicht gestiegen - aber auch die Zahl der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger.
Um auch hier andere Einflüsse auszuschließen, hat sich Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Abgänge in einer Untersuchung genauer angeguckt. Denn für den Rückgang bei den Abgängen und den Anstieg bei den Grundsicherungsempfängern sind aus seiner Sicht viele Aspekte zu berücksichtigen: "Dafür ist eine Reihe von Faktoren relevant: Einen starken Einfluss hat der Wirtschaftsabschwung, der bereits seit über zwei Jahren andauert."
Dadurch seien die Stellenmeldungen deutlich zurückgegangen, was die Jobchancen von Arbeitslosen beeinträchtige, so Weber. "Die Struktur in der Arbeitslosigkeit ist schwieriger geworden, beispielsweise verfügen mittlerweile über zwei Drittel der Arbeitslosen in der Grundsicherung über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Dementsprechend ist der Mismatch nach Qualifikation gewachsen."
Sanktionen wirken sich auf Jobaufnahmen aus
Für seine Untersuchung hat Weber daher solche Einflussfaktoren herausgerechnet, um zu schauen, was sich allein durch das Bürgergeld verändert hat. Das Ergebnis: Im ersten Jahr der Einführung des Bürgergelds ist die Anzahl der Jobaufnahmen von arbeitslosen Grundsicherungsempfängern um knapp sechs Prozent gesunken.
Laut Weber ist das auf das Gesamtpaket der geänderten Regelungen zurückzuführen. Ein Aspekt davon sind zum Beispiel die Sanktionen, die Grundsicherungsempfänger zu befürchten haben, wenn sie ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Diese wurden nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab Juli 2022 vorübergehend ganz aufgehoben. Dies verursachte der Untersuchung zufolge im zweiten Halbjahr 2022 eine Verringerung der Jobaufnahmen von Grundsicherungsempfängern um vier Prozent.
Zwar wurden mit dem Bürgergeld auch Sanktionen wieder eingeführt, allerdings weniger streng als zuvor. Inzwischen hat die Bundesregierung die Sanktionen verschärft. Sanktionen würden die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Grundsicherungsempfänger einen neuen Job annehmen, so Weber. Das gelte auch schon im Vorhinein, da Verhalten angepasst werde, damit erst gar nicht sanktioniert werde.
Sanktionen können Beschäftigungsqualität verringern
Mit zunehmendem Druck steige allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen perspektivlose und schlecht bezahlte Jobs annähmen oder sich ganz von der Vermittlung abwendeten. Es komme also auf das richtige Maß an, so Weber.
So kommt eine Metauntersuchung des IAB zu dem Ergebnis, dass Sanktionen die Beschäftigungsqualität verringern können. Eine Studie zeigte zudem, dass die Beschäftigungswahrscheinlichkeit nach einer Sanktion längerfristig niedriger ausfällt.
Effekte der Bürgergeldreform auf nachhaltige Ziele wie Stabilität und Niveaus der aufgenommenen Jobs ließen sich noch nicht beobachten, so Weber. Er merkt dabei an, dass trotz der steigenden Zahl von Arbeitssuchenden die Betreuungskapazität nicht zugenommen habe. Auch die Aufnahme von Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen sei bisher nicht gestiegen. "Bei Betreuung und Qualifizierung nachzulegen, ist richtig", sagt er.
In einer früheren Version stand, dass der Rückgang bei den Jobaufnahmen von arbeitslosen Bürgergeldempfängern vor allem auf die Sanktionen zurückzuführen sei. Studienautor Weber weist jedoch daraufhin, dass sich der gemessene Effekt auf das Gesamtpaket der geänderten Regelungen bezieht. Wir haben die Passage entsprechend präzisiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.
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