In einem Jobcenter liegt ein Antrag auf Bürgergeld.
hintergrund

Nullrunde im kommenden Jahr So wird das Bürgergeld berechnet

Stand: 04.09.2024 08:33 Uhr

Die monatlichen Zahlungen im Bürgergeld sollen im kommenden Jahr nicht erhöht werden. Seit Monaten ist die Höhe umstritten. Doch wie wird das Bürgergeld berechnet? Eine Erklärung in fünf Schritten.

Von Jan-Peter Bartels, ARD-Hauptstadtstudio

563 Euro pro Monat ist der Regelsatz beim Bürgergeld. Warum nicht mehr, warum nicht weniger? Die Sache ist kompliziert: Dahinter stehen mehrere Gesetze, Verordnungen und Durchschnittsrechnungen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) macht gern klar: "Wir würfeln nicht irgendeine Bürgergelderhöhung!" Wie es tatsächlich funktioniert: die Bürgergeld-Berechnung in fünf Schritten.

Schritt 1: Die Stichprobe

Alle fünf Jahre passiert in Deutschland die größte statistische Haushaltserhebung in Europa. Dazu werden rund 80.000 Haushalte befragt, wofür sie ihr Geld ausgeben. Viele davon führen für drei Monate ein Haushaltsbuch. Darin schreiben sie alle Ausgaben genau auf.

Durch diese sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) weiß der Staat recht genau, was Haushalte mit weniger Geld verbrauchen. Auf Basis dieser Daten wird ausgerechnet, wie hoch das Bürgergeld sein sollte.

Dazu bestellt das Bundesarbeits- und Sozialministerium eine Sonderauswertung bei den Statistikern. Die schauen nun in ihren Daten nach den Haushalten mit kleinem Einkommen, die kein Bürgergeld bekommen. Man nimmt hier die unteren 15 bis 20 Prozent als sogenannte Referenzhaushalte. Grob gesagt ist der Gedanke: Was diese Menschen ausgeben, das sollte in etwa auch ein Bürgergeld-Bezieher bekommen.

Da die EVS ein großer Aufwand ist, wird sie nur alle fünf Jahre durchgeführt. Das Auswerten der Daten dauert seine Zeit: Mehr als ein Jahr vergeht, bis die Ergebnisse veröffentlicht werden. (Wer seine eigenen Ausgaben mit den Daten der EVS vergleichen möchte, kann das unter www.konsumvergleich.de tun.)

Schritt 2: Der Regelbedarf

Das Bürgergeld soll das "menschenwürdige Existenzminimum" absichern, darüber hinaus aber keinen großen Spielraum erlauben. Deswegen ist das Bürgergeld nicht einfach der gleiche Betrag, den Menschen mit niedrigem Einkommen aus der statistischen Stichprobe haben. Denn die können es sich vielleicht leisten, zu rauchen oder Alkohol zu trinken. Beim Bürgergeld ist das nicht inklusive.

Deswegen werden im Bundesarbeits- und Sozialministerium die Ausgaben aus der EVS noch einmal durchgeschaut und dabei vieles gestrichen. Der Bundestag hat genau definiert, was nicht zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört. Dazu zählen beispielsweise: Alkohol, Tabak, Autofahren, Pauschalreisen, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, Glücksspiele und Haustiere. Was übrig bleibt, wenn all diese Ausgaben gestrichen wurden, ist der sogenannte Regelbedarf.

Schritt 3: Das Regelbedarfermittlungsgesetz

In einem Gesetz schreibt der Bundestag alle Posten auf, die zum Regelbedarf gehören. Hier wird in zwölf Kategorien aufgelistet, was beim Bürgergeld inklusive ist. Im Gesetzesverfahren ließ sich im Entwurf nachverfolgen, wie sich das aufschlüsselt. Bei einem Einpersonenhaushalt beispielsweise in rund 80 Positionen, darunter diese:

  • 134,90 Euro pro Monat für Nahrungsmittel
  • 2,42 Euro für Schuhe
  • 0,28 Cent für eventuelle Änderungen an Schuhen
  • 4,87 Euro für Eintrittsgelder zu Kulturveranstaltungen
  • 12,90 Euro für Getränke

Die Rechnung ist sehr detailliert und berücksichtigt auch, dass bei den Getränken womöglich Flüssigkeit fehlt, weil der Alkohol aus der Stichprobe gestrichen wurde. Dafür wird ein zusätzlicher Ersatzposten aufgeführt: 3,13 Euro pro Monat für Mineralwasser.   

All diese Positionen zusammen ergaben 434,96 Euro, als das Gesetz geschrieben wurde. Das war 2020, das Gesetz basiert auf der statistischen Stichprobe von 2018. Der Bundestag geht bei dieser Festlegung davon aus, dass Bürgergeld-Empfänger selbstständig entscheiden, auf welchen Posten aus dieser Liste sie womöglich verzichten können, wenn sie sich etwas leisten wollen, das nicht zum Regelbedarf gezählt wird.

Über die Höhe und Berechnung gab es schon viel Streit, diese Form hat nun das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß abgenickt. Die Kosten der Unterkunft zählen übrigens nicht zum Bürgergeld, sondern werden getrennt abgerechnet und erstattet.

Schritt 4: Die Fortschreibung

Allerdings wird die statistische Stichprobe nur alle fünf Jahre erhoben, das dazugehörige Gesetz entsprechend alle fünf Jahre erneuert - das nächste Mal voraussichtlich 2025. Weil in der Zwischenzeit die Inflation für höhere Ausgaben sorgen kann, gibt es die sogenannte Basisfortschreibung. Die soll unter anderem die Inflation ausgleichen. Dafür wird eine spezielle Inflationsrate ausgerechnet, die auf den Positionen aus dem Regelbedarf basiert.

Das wird deshalb gemacht, weil die allgemeine Inflation beispielsweise auch durch die Entwicklung der Mieten oder des Benzinpreises beeinflusst wird. Das Bürgergeld ist aber nicht für Miete oder Autofahren, deswegen wird eine Inflationsrate berechnet auf Basis nur der regelbedarfsrelevanten Güter, wie zum Beispiel Nahrungsmittel oder Hygieneartikel. Ist die Inflation speziell bei Nahrungsmitteln und Getränken sehr hoch, muss das Bürgergeld entsprechend stärker angepasst werden, da Nahrungsmittel und Getränke ein gutes Drittel ausmachen.

Allerdings ist für die Erhöhung nicht die Inflation allein entscheidend, sondern auch die durchschnittliche Entwicklung von Löhnen und Gehältern. In einem Verhältnis 70 Prozent (Inflation) zu 30 Prozent (Lohnsteigerung) werden diese beiden Faktoren genommen, um damit auszurechnen, um wie viel Prozent das Bürgergeld möglicherweise erhöht werden muss.

Mit der Basisfortschreibung soll also unter anderem die Inflation ausgeglichen werden. Allerdings: Gearbeitet wird mit den Daten aus dem laufenden Jahr, die Erhöhung kommt zum Jahresanfang des Folgejahres. Am Beispiel erklärt: Für die Erhöhung Anfang 2024 wurden also die Daten von Juli 2022 bis Juni 2023 genommen.

Das kann den tatsächlichen Kosten sozusagen hinterherhinken: Wenn die Daten bis Ende Juni genommen werden, die Inflation aber hoch ist, dann steigen die Preise natürlich weiter, und die Bürgergeld-Empfänger müssen diese höheren Preise auch bezahlen. Sie bekommen aber das Geld, das bis zum Juni des Vorjahres angemessen gewesen wäre.

Schritt 5: Die ergänzende Fortschreibung

Dieses Problem soll die ergänzende Fortschreibung auffangen - quasi ein Aufschlag auf die Basisfortschreibung. Verkürzt gesagt wird dabei versucht, schon die Inflation aus dem laufenden Jahr stärker einzupreisen. Das wird auf Basis der Inflation von April bis Juni eines Jahres gemacht.

Auf diese Art und Weise wurde die Erhöhung für beispielsweise 2023 ausgerechnet. Das Bundesarbeits- und Sozialministerium kam auf eine Basisfortschreibung von 4,54 Prozent und eine ergänzende Fortschreibung 6,9 Prozent. Deswegen wurde das Bürgergeld zum 1. Januar 2023 auf 502 Euro erhöht. Ähnlich war es 2024, als das Bürgergeld auf 563 Euro erhöht wurde.

Kompliziert, durchdacht - und trotzdem kritisiert

Beim Bürgergeld wird also tatsächlich nicht gewürfelt, sondern es steht eine komplizierte Rechnung dahinter. Trotzdem wird das Ergebnis von vielen Seiten scharf kritisiert. So halten Sozialverbände den Betrag für viel zu knapp bemessen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband beispielsweise hat selbst gerechnet und fordert mindestens 813 Euro pro Monat - unter anderem, weil die Lebensmittelpreise so stark gestiegen sind.

Sozialwissenschaftler stellen fest, dass schon die Stichprobe niedriger liegen könnte, als sie es in Wahrheit sein sollte: durch die sogenannte verdeckte Armut. Das sind Menschen, die mit ihrem sehr geringen Einkommen auskommen wollen und aus Scham oder Unwissen keine Sozialleistungen beantragen, obwohl sie das könnten. Sie senken die durchschnittlichen Ausgaben und damit die Stichprobe. Auch bekämen Bürgergeld-Haushalte teils ihre Mietkosten nicht vollständig erstattet, weil die Miete vom Amt als nicht angemessen bewertet wird. Solche Haushalte müssen dann sparen, um die Miete vollständig zahlen zu können.

Wenn beispielsweise die FDP beim Bürgergeld kürzen will, bezieht sie sich auf die ergänzende Fortschreibung und kritisiert diese als zu hoch: Die Inflation sei überschätzt worden. Dieses Problem sehen andere nicht: Weil jedes Jahr durch die Basis-Fortschreibung neu gerechnet werde, werde das dadurch wieder aufgefangen. Eine Kürzung sei auch im Gesetz nicht vorgesehen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 04. September 2024 um 11:00 Uhr.