Menschen im Wartebereich des Jobcenter Treptow-Köpenick.
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Debatte um Reform Beim Bürgergeld droht der Ampel ein heißer Herbst

Stand: 07.08.2024 16:36 Uhr

Die Bundesregierung zieht die Schrauben beim Bürgergeld an. Wie das in den eigenen Reihen ankommt und warum die Union die Debatte immer weiter anfacht.

Eine Analyse von Jan-Peter Bartels, ARD-Hauptstadtstudio

Die Wachstumsinitiative ist Teil des Haushaltspakets, über das Bundeskanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner und Vizekanzler Robert Habeck tagelang gerungen haben. Doch nun kündigen Sozialpolitiker aus Habecks eigener Grünen-Fraktion Widerstand an.

Die Aussage ist klar, die Drohung deutlich: "Ich bin der Auffassung, dass wir einigen dieser Vorschläge nicht folgen können," sagt Frank Bsirske, arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen. Was bei der Wachstumsinitiative zum Bürgergeld geplant ist, regt ihn merklich auf. "Eine Reihe von Punkten," so sagt er mit emotionaler Stimme, müssten "grundsätzlich hinterfragt werden" - sonst könnte er sich nicht vorstellen, nötigen Gesetzesänderungen zuzustimmen.

Von Beginn an Kritik

Dieser Gegenwind dürfte manchem in der Führung der Ampel ungelegen kommen. Das Bürgergeld ist gerade mal 585 Tage alt, als Bsirske das sagt. Eine kurze Geschichte - die politisch gesehen aus viel Verteidigung im Rückwärtsgang bestand. Dabei war das Bürgergeld ein Herzensanliegen von SPD und Grünen und mit hehren Zielen gestartet: Das Sozialsystem sollte besser, einfacher und menschlicher werden. Vor allem die SPD wollte "Hartz IV hinter sich lassen" und etwas wiedergutmachen nach den harten Einschnitten durch die rot-grüne Regierung vor rund 20 Jahren.

Doch das Bürgergeld steht quasi seit seiner Einführung in der Kritik: Es gebe zu viel Geld, die Sanktionen seien zu lasch und es sei zu verlockend für Menschen, die nicht arbeiten wollen. So hat die Ampel beim Bürgergeld umgebaut und die Sanktionen verschärft, dreht scheibchenweise Teile der Reform zurück. So auch bei der jetzt geplanten Wachstumsinitiative. Dabei geht es um 49 Maßnahmen, die Deutschland aus der wirtschaftlichen Flaute holen sollen. Punkt Nummer 23: "Erwerbsanreize im Bürgergeldbezug".

Damit sollen die Sanktionen erneut verschärft werden: Eine 30-prozentige Kürzung des Bürgergeldes soll schneller und schon beim Versäumen eines Termins möglich werden. Auch soll ein längerer Arbeitsweg zumutbar werden: Drei Stunden Pendeln bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden sollte "in Kauf genommen werden müssen" und "auch weitere Fahrtwege zum Arbeitsplatz als unbedingt zumutbar gelten".

Insgesamt soll es erschwert werden, Jobs abzulehnen oder wieder zu kündigen. Wer Bürgergeld bezieht, soll sich jeden Monat in Präsenz bei der zuständigen Behörde melden müssen.

"Ein bürokratischer Irrweg"

Gerade dieser Punkt ist für den grünen Sozialpolitiker Bsirske ein Aufreger. "Wenn man die Jobcenter lahmlegen will, dann macht man so eine Meldepflicht", so Bsirske, denn das sei ohne großen Aufwand kaum umzusetzen: "Das ist ein bürokratischer Irrweg, der auf blankes Unverständnis stoßen muss und nur als Schikane empfunden werden kann." Auch die härteren Sanktionen empfindet er als falsch: "Es ist ein Irrweg, von einem Ansatz abzugehen, der auf Kooperation setzt, und zurückzukehren zu einer Praxis, die von Anfang an mit Drohungen agiert."

Das gelte auch für den Plan, verstärkt Ein-Euro-Jobs zu nutzen für die sogenannten Totalverweigerer, die alle Maßnahmen ablehnen: "Das macht die Ein-Euro-Jobs zur Strafkolonne und stigmatisiert das Instrument."

Sinneswandel bei der Union?

Für die Ampel ein Dilemma: Sozialpolitiker empfinden die Verschärfungen als falsch, die Spitzen dagegen sehen kaum andere Optionen. Denn in der öffentlichen Debatte hat das Bürgergeld ein schlechtes Image. Wiederholt hat die CDU das Modell angegriffen. Von 197 Unionsabgeordneten hatten zwar 176 der Einführung des Bürgergelds zugestimmt, unter ihnen auch die Abgeordneten Friedrich Merz, Carsten Linnemann und Jens Spahn. Der 25. November 2022 schien jedoch schnell vergessen: Im März 2024 gab es einen Vorstandsbeschluss der CDU, das Bürgergeld abzuschaffen.

Wie das zusammenpasst? "Wenn wir nicht zugestimmt hätten, hätte es keine Sanktionen mehr gegeben", hat CDU-Generalsekretär Linnemann erklärt.

Was bringen die Sanktionen?

Die Sanktionen sind immer wieder ein Nukleus der Debatte. In einer DIW-Studie Anfang des Jahres haben Jobcenter-Beschäftige die Sanktionsmöglichkeiten als zu lasch kritisiert. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt in einer aktuellen Analyse zu dem Ergebnis, dass allein die Drohung mit Sanktionen dafür sorgt, dass mehr Menschen arbeiten - je wahrscheinlicher die Sanktion, umso mehr Menschen nehmen eine Beschäftigung auf.

Allerdings sind Sanktionen demnach auch kein Allheilmittel. Je wahrscheinlicher Sanktionen sind, umso eher fangen Menschen an, in schlechter bezahlten Helfer-Jobs zu arbeiten. Die Beschäftigungsqualität werde dagegen durch eine moderatere Sanktionspolitik verbessert.

"Typische Strategie der Spaltung"

Die Wahrheit dürfte also irgendwo in der Mitte liegen und damit auch im Gefühl der Gesellschaft, was eigentlich fair ist. Diese Diskussion bedient die CDU, sagen Politikwissenschaftler. "Die Union probiert, was zieht und womit man die nächsten Wahlkämpfe bestreiten kann", so der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher von der Frankfurter Goethe-Universität.

Im September stehen die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg an sowie im kommenden Jahr die Bundestagswahl. Bei der Diskussion spiele die CDU allerdings die arbeitende Bevölkerung gegen Hilfe-Beziehende aus. "Das ist eine typische Strategie der Spaltung", so Biebricher.

Das hat in den vergangenen Monaten dafür gesorgt, dass scheibchenweise die Schrauben beim Bürgergeld angezogen werden. So weit, dass nun Sozialpolitiker der Ampel wie der Grüne Frank Bsirske nicht mehr mitgehen wollen, während Wahlkämpfer wie der Brandenburger SPD-Chef Dietmar Woidke die Sache pragmatisch sehen und die Änderungen beim Bürgergeld unterstützen. "Ich habe das grundsätzlich schon vor längerem gefordert", so Woidke. "Die Änderungen sind sinnvoll und notwendig. Fördern und fordern gehören zusammen."

Beim Bürgergeld dürfte der Ampel ein heißer Herbst bevorstehen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 05. August 2024 um 16:00 Uhr.