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Rentenreformen ohne Ende Was man über die Rente wissen muss

Stand: 27.09.2024 05:39 Uhr

Ist das Rentensystem kurz vor dem Kollaps? Welche Konzepte hat die Bundesregierung? Warum kriegt die Politik das nicht besser hin? Alles, was man über das Thema Rentenreform wissen muss.

Von Jan-Peter Bartels, ARD-Hauptstadtstudio

"Eine Sozialreform", sagt der Abgeordnete mit dem großen Backenbart, "kann man mit zugeknöpften Taschen nicht machen." Paul Singer ist empört, das ist der Rede des Sozialdemokraten anzumerken. Die Generaldebatte zur Rentenversicherung ist hitzig an diesem Nachmittag, immer wieder gibt es Zwischenrufe. Es dürfe nicht sein, dass ein Rentner am Ende auf Sozialhilfe angewiesen sei, sagt der Abgeordnete Singer und fordert: "Tut doch den Beutel auf!"

Es ist der 17. Mai 1889. Sieben Tage später beschließt der Reichstag den Gesetzentwurf, es ist die Geburtsstunde der deutschen Rentenversicherung. Der Beitragssatz liegt anfangs bei zwei Prozent, bei 70 Jahren das Renteneintrittsalter. 135 Jahre später ist der Beitragssatz höher, das Eintrittsalter niedriger - und der politische Streit über das Rentensystem ist geblieben.

Kapitel 1: Das Rentensystem in Schieflage?

"Wir haben eine positive Geschichte", sagt Peter Haan vom DIW. Das System sei ein Erfolg im Vergleich zu anderen Ländern und auch wenn es nun einige Herausforderungen gebe, stehe es nicht kurz vor dem Zusammenbruch. "Man darf die Sachen nicht zu schwarz malen", meint der Professor für Wirtschaftsforschung. "Aber wir müssen jetzt wirklich Reformen durchführen, um das System zu stabilisieren."

Das wird nämlich an mehreren Enden auf die Probe gestellt, weil es sich um ein sogenanntes Umlagesystem handelt: Bei der Rente zahlen alle angestellten Arbeitnehmer ihre Beiträge in einen großen Topf ein, aus dem das Geld dann direkt an alle aktuellen Rentner ausgezahlt wird. Man hat also kein persönliches Sparkonto, sondern die Einzahlungen werden umgelegt. Das bringt Probleme, weil die Zahl der Rentner steigt, ebenso wie die Lebenserwartung.

1960 erhielten Männer und Frauen in Deutschland im Schnitt für 9,9 Jahre Rente, inzwischen sind es 20,5 Jahre. Es beziehen also immer mehr Menschen immer länger Rente. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft hat das hochgerechnet: Demnach kommen 2020 auf 100 Beitragszahler 57 Rentner; im Jahr 2030 dürften es 67 sein, im Jahr 2050 etwa 77.

Je mehr Rentner es gibt, umso weniger Rente bekommt jeder einzelne - es sei denn, die Beitragssätze steigen oder der Staat legt Geld dazu. Beides passiert. Lag der Beitragssatz zur Rentenversicherung 1960 noch bei 14%, stieg er bis 1998 auf 20,3% an. Seitdem wurde der Beitrag durch mehrere Reformen auf aktuell 18,6% gedrückt. 2035 könnten es schon 22,3% sein, rechnet die Bundesregierung.

Auch um den Beitragsanstieg zu bremsen, gibt der Staat schon jetzt Geld bei der Rentenkasse dazu: Dafür sind 2025 insgesamt rund 121 Milliarden Euro eingeplant. Das ist etwa ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts. Ohne Zuschüsse hätte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) weniger Geld zur Verfügung und die Renten müssten sinken, laut DRV auf ein Rentenniveau von rund 45% bis 2040.

Das sogenannte Rentenniveau ist eine Modellrechnung, um die Rentenhöhe greifbar zu machen und zu schauen, wie sie sich im Vergleich zu den Löhnen entwickelt. Das Rentenniveau gibt an, was ein Durchschnittsrentner gemessen am Durchschnittsverdiener an Rente bekommt. Die Prozentzahl bezieht sich nicht auf das letzte Gehalt vor dem Ruhestand. Die Rente muss noch versteuert werden.

Kapitel 2: Was sich im Rentensystem ändern soll

Mit dem Rentenpaket II soll das System reformiert werden. Es ist ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Programmen der Ampelparteien und sieht zum einen eine Haltelinie beim Rentenniveau vor. Das ist ein Herzensanliegen von SPD und Grünen. Das Niveau soll bis 2039 nicht unter 48% fallen. Weil es aber so viele Rentner geben wird, müssten im Gegenzug bald entweder die Beiträge steigen oder der Staat mehr dazugeben. In der FDP-Fraktion sehen das viele kritisch: das sei nicht generationengerecht, so die Kritik. Es belaste die arbeitende Mitte zu sehr, erklärte Fraktionsvize Johannes Vogel. Es ist mehr als fraglich, ob alle in der FDP-Fraktion die Reform akzeptieren werden.

Dabei hat die FDP in das Paket einen Aspekt hineinverhandelt, der den Liberalen sehr wichtig war: Der Staat soll jedes Jahr zwölf Milliarden Euro Schulden aufnehmen und dieses Geld über eine Stiftung in Aktien anlegen. Das sogenannte Generationenkapital. Mit den daraus erhofften Gewinnen soll der Beitragsanstieg gebremst werden. Deswegen, so erwartet die Bundesregierung, werde der Rentenbeitrag 2045 statt bei 22,7% bei 22,3% liegen - also um 0,4 Prozentpunkte niedriger.

Finanzminister Lindner sieht das Generationenkapital zwar als großen Erfolg. Den Einstieg in eine aktienbasierte Rente hatten die Liberalen schon lange gewollt. Am liebsten wäre es der FDP aber, könnte jeder Bürger selbst privat und staatlich gefördert mit Aktien für die Rente vorsorgen. Deswegen will Lindner ein sogenanntes Altersvorsorgedepot schaffen, das er als "Gamechanger der privaten Altersvorsorge" bezeichnet. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll bald im Bundestag diskutiert werden.

Die SPD ist skeptisch: nicht alle hätten genug Geld, um privat vorzusorgen. Die Sozialdemokraten wollen deshalb ebenso wie die Grünen auch die Betriebsrenten stärken, damit mehr Arbeitgeber für ihre Angestellten eine Rente zahlen. Auch dazu soll bald ein Gesetzentwurf im Bundestag diskutiert werden.

Kein einfaches Thema, die Altersvorsorge, da man viele Variablen der Gleichung nicht vorher kennt - wie beispielsweise die zukünftige Wirtschaftsentwicklung oder Arbeitslosigkeit. Und so diskutieren die deutschen Abgeordneten wieder und weiter über Reformen. 135 Jahre nach den ersten Debatten damals, in der Leipziger Straße in Berlin.

Kapitel 3: Was die Parteien wirklich wollen

Politik ist auch die Kunst des Kompromisses - aber was haben die Parteien im Bundestag zur Rente in ihren Programmen stehen?

Die SPD will, dass es bei einem allgemeinen Renteneintrittsalter von 67 Jahren und einem Rentenniveau von mindestens 48 Prozent bleibt. Zudem will die Partei auch auf der anderen Seite der Gleichung ansetzen: Sie möchte mehr Menschen in Arbeit bringen, auch die Frauenerwerbsquote weiter steigern. Dann gäbe es mehr Einzahler, das würde Druck vom Kessel nehmen. "Der Generationenvertrag hat sich trotz aller Schwarzmalerei und politischer Angriffe über Generationen hinweg bewährt, daran halten wir fest", sagt Fraktionsvize Dagmar Schmidt. Die Partei findet, dass auch Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollten. Die SPD will zudem erreichen, dass mehr Unternehmen eine Betriebsrente anbieten, damit Rentner ein zweites Einkommen neben der gesetzlichen Rente haben.

Auch die Grünen wollen das Rentenniveau bei 48 Prozent halten und die Frauenerwerbstätigkeit steigern. Sie planen eine Bürgerversicherung, perspektivisch sollen Selbstständige und Beamte in die Rentenversicherung einbezogen werden. Bei Geringverdienern soll der Arbeitgeber mehr Beiträge zahlen ("Arbeitgeber-Plus"), um Altersarmut zu vermeiden. "Wir legen großen Wert darauf, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rente nicht von den Entwicklungen am Kapitalmarkt abhängig ist", sagt Frank Bsirske, der arbeitspolitische Sprecher der Fraktion. "Aber bei der Betriebsrente und der Privatrente setzen wir auf die Kapitalmärkte." Die Grünen fordern bei Betriebsrenten eine Angebotspflicht für Arbeitgeber und wollen bei der privaten Vorsorge einen staatlichen "Bürgerfonds" anbieten, in den Interessierte investieren können.

Die FDP will eine "enkelfitte Rente", wie sie das nennt: Geht es nach ihr, sollen von den 18,6 Prozent Rentenbeitrag zwei Punkte in eine gesetzliche Aktienrente eingezahlt werden, um dem demografischen Wandel zu begegnen. "Als Freie Demokraten halten wir eine Aktienrente nach schwedischem Vorbild für einen sinnvollen Weg, denn jeder Sozialversicherungspflichtige würde hier einen individuellen Rentenanspruch erwerben", sagt Anja Schulz, Rentenexpertin der FDP-Fraktion. Auch wollen die Liberalen den Nachholfaktor der Rentenformel wieder aktivieren. Die Liberalen wollen Selbstständigen die volle Wahlfreiheit lassen, wie sie ihre Altersvorsorge gestalten und in der betrieblichen Altersvorsorge mehr Möglichkeiten für nicht-tarifgebundene Unternehmen schaffen, eine Betriebsrente anzubieten. Zudem wollen die Liberalen ein privates Altersvorsorge-Depot einführen.

Die CDU spricht in ihrem Grundsatzprogramm davon, die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung zu koppeln. Das heißt: Das Renteneintrittsalter würde steigen. Zudem will die Union die gesetzliche Rente durch eine verpflichtende kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzen. Bei der vergangenen Bundestagswahl hatte die Union zudem über eine Generationenrente gesprochen. Dabei soll der Staat für Kinder ab Geburt einen festen Betrag zahlen und auf dem Kapitalmarkt anlegen. "Durch den Zins- und Zinseszinseffekt kann sich die Rente im Alter dadurch erheblich erhöhen und Altersarmut vorbeugen", erklärt der arbeitsmarktpolitische Sprecher Stephan Stracke. "Hiervon profitiert jeder Einzelne, da diese Vorsorgeformen individuell und eigentumsgeschützt sind." Die betriebliche Altersvorsorge will die Union ausbauen.

Die AfD will einen höheren Steuerzuschuss in die Rentenkasse. Gegenfinanzieren will die Partei das nicht durch Steuererhöhungen, sondern durch "konsequente Streichungen von ideologischen Politikmaßnahmen, beispielsweise in der Migrations-, Klima- und EU-Politik". Beamte sollen zwar weiter staatliche Pensionen bekommen, aber laut AfD sollte der Staat viel weniger mit Beamten seine Aufgaben erfüllen, und stattdessen mehr auf Angestellte setzen, die in die Rentenkasse einzahlen. Mit diesen Maßnahmen will die AfD mehr Einzahler, mehr Geld im Topf und somit mittelfristig höhere Renten erreichen. Die AfD will einen flexiblen Renteneintritt nach 45 Arbeitsjahren, länger als bis 67 sollte niemand arbeiten müssen. "Der Fokus auf starre Altersgrenzen wird der heutigen Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer längst nicht mehr gerecht"; sagt die rentenpolitische Sprecherin Ulrike Schielke-Ziesing.

Die Linke will ganz auf die gesetzliche Rente setzen. So soll das Rentenniveau auf 53 Prozent erhöht werden und alle mit 65 Jahren in Rente gehen können - oder bereits mit 60 Jahren nach 40 Beitragsjahren. Auch Beamte, Politiker und Selbstständige sollen in die staatliche Rentenkasse einzahlen müssen. Die Beitragsbemessungsgrenze soll stark angehoben werden - wer viel verdient, soll also für einen größeren Teil seines Gehalts Beiträge zahlen müssen, dabei aber für die zusätzlichen Einzahlungen weniger Rentenansprüche bekommen. Der rentenpolitische Sprecher Matthias W. Birkwald sagt, die Politik müsse sich eben für die gesetzliche Rente stark machen: "Je mehr die Rente abgesenkt oder zugunsten privater Vorsorge und Kapitaldeckung geschwächt wird, desto mehr sinkt das Vertrauen in die gesetzliche Rente."

Das BSW will die staatliche Rente auf ein Rentenniveau von 53 Prozent erhöhen und sich am österreichischen Modell orientieren. Dort liegen die Beiträge, aber auch das Rentenniveau viel höher als in Deutschland. Das BSW fordert 65 Jahre als reguläres Renteneintrittsalter und Steuerfreiheit für Renten unter 2000 Euro. In die staatliche Rentenkasse sollen alle einzahlen müssen, inklusive Selbstständige, Freiberufler, Beamte und Bundestagsabgeordnete. Das BSW argumentiert, dass Deutschland sich mehr staatliche Zuschüsse an die Rentenkasse leisten könnte und müsste.

Digitale Rentenübersicht

Einen Überblick über den Stand der eigenen Altersvorsorge bekommt man auf der Seite der Deutschen Rentenversicherung.