Ein Flugzeug startet vom Flughafen Leipzig/Halle. (Archivbild: 02.02.2021)
Kontext

Abschiebung nach Afghanistan Warum die Straftäter "Handgeld" bekommen

Stand: 30.08.2024 17:38 Uhr

Die nach Afghanistan abgeschobenen Männer haben jeweils 1.000 Euro "Handgeld" erhalten. Das hat das niedersächsische Innenministerium bestätigt. Warum die Straftäter das Geld bekommen.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

28 afghanische Staatsangehörige, "die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen", waren nach Angaben des Regierungssprechers Steffen Hebestreit an Bord der Maschine, die am Freitagmorgen vom Flughafen Leipzig/Halle aus Richtung Afghanistan gestartet war. Dabei handelte es sich um die ersten Abschiebungen in das Land seit der Machtübernahme der radikal-islamischen Taliban in Kabul.

Im Netz sorgt jedoch etwas anderes für große Aufregung: Nach Angaben des Spiegel soll jeder Abgeschobene vor dem Flug 1.000 Euro "Handgeld" erhalten haben. Bei 28 Passagieren wären das insgesamt 28.000 Euro - und das auch noch für Straftäter. Das Bundesinnenministerium (BMI) verweist auf Anfrage des ARD-faktenfinders zu dem Sachverhalt auf die Bundesländer, das niedersächsische Innenministerium bestätigte die Zahl. Welche Gründe kann es für die Zahlung gegeben haben?

Erste Abschiebung nach Afghanistan unter Taliban-Herrschaft

Stephan Stuchlik, ARD Berlin, tagesschau, 30.08.2024 20:00 Uhr

Abschiebungsverbot sollte vermieden werden

Aus dem niedersächsischen Innenministerium heißt es auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios, dass das BMI die Auszahlung eines "Handgelds" in Höhe von 1.000 Euro pro Person als Leistung der zuführenden Länder empfohlen habe, "um das menschenwürdige Existenzminimum für einen Übergangszeitraum (sechs bis neun Monate) zu gewährleisten und so die Feststellung eines Abschiebungsverbotes zu vermeiden". Das BMI sehe diesen Betrag als ausreichend an, vorübergehend die notwendigsten Bedarfe zu decken. Im Zusammenhang mit der Sammelabschiebung hätten sich die Länder auf die nun ausgezahlte Summe gemeinsam geeinigt.

Grund für diese Empfehlung des BMI sind rechtliche Bedenken. Denn grundsätzlich sei bei Rückführungen nach Afghanistan zu klären, wie in einem gerichtlichen Verfahren die Feststellung eines Abschiebungsverbotes wegen drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Paragraf 60 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes in Verbindung mit Artikel 3 Europäischen Menschenrechtskonvention vermieden werden könne, so das niedersächsische Innenministerium.

"Menschen dürfen nicht dahin abgeschoben werden, wo ihnen eine unmenschliche Behandlung droht", sagt Philip Raillon, Mitglied der ARD-Rechtsredaktion. Das stehe so in der Europäischen Menschenrechtskonvention. "Dieser Maßstab ist für Deutschland zwingend, auch wenn es um Straftäter geht."

Eine unmenschliche Behandlung könne auch dann vorliegen, wenn humanitäre Gründe im Heimatland dafür sprächen, so Raillon. "Ich nenne das mal eine Art humanitäres Abschiebungsverbot. Die Rechtsprechung hat daran aber sehr hohe Anforderungen. Ein solches Abschiebungsverbot liegt aber wohl vor, wenn der Ausländer zurück im Heimatland nicht das absolut mindeste Lebensniveau, also das Existenzminimum, halten kann und dies etwa zu einer Verschlechterung seiner Gesundheit führen würde."

Urteil des Bundesverwaltungsgericht als Referenz?

So gilt zum Beispiel ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2022 (BVerwG 1 C 10.21) als mögliche Referenz. Das Gericht hatte im Fall eines Klägers aus Afghanistan entschieden, dass ein Mensch abgeschoben werden kann, wenn seine Existenz für einen absehbaren Zeitraum noch gesichert ist. Finanzielle Rückkehrhilfen zählen demnach dazu. Der Mann hatte kein Asyl in Deutschland erhalten und wollte mit der Klage ein Abschiebungsverbot nach Paragraf 60 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes erreichen.

In den Leitsätzen zu dem Urteil heißt es, dass ein Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes anzustellende Gefahrenprognose ist, ob ein Ausreisepflichtiger nach seiner Rückkehr, "gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen". Nicht entscheidend sei hingegen, "ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist".

Weiter heißt es: "Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht." Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung sei, desto höher müsse die Wahrscheinlichkeit der Verelendung nach diesem Zeitraum sein.

Der Kläger hatte sich auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention berufen, demzufolge niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden dürfe. Begründet hatte er das mit der gravierenden Verschlechterung der humanitären Lage in Afghanistan seit Ausbruch der Corona-Pandemie und dem einhergehenden Lockdown, weswegen er sein Existenzminimum trotz der finanziellen Hilfen bei einer Abschiebung nicht nachhaltig sichern könne. Das Bundesverwaltungsgericht sah das jedoch anders.

Mehrere Gerichtsentscheidungen als Begründung

Insgesamt bezieht sich das BMI mit der Empfehlung nach Angaben des niedersächsischen Innenministeriums auf vier Gerichtsurteile. Mit Blick auf Abschiebungen nach Afghanistan würden die Gerichte jeweils die schwierige Versorgungslage und wirtschaftliche Situation aufgrund der verfügbaren Berichte von internationalen Organisationen berücksichtigen, heißt es. "Sie stellten fest, dass die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfen angewiesen ist und die durchschnittlichen Verdienste die Lebenshaltungskosten nicht decken." Berücksichtigt werde aber auch die individuelle Leistungsfähigkeit der betroffenen Personen.

Als nachteilige Faktoren hätten die Gerichte etwa den fehlenden Zugang zu einer das Mindestniveau des Existenzminimums sichernden Arbeit, Krankheit und Behinderung oder das Fehlen eines sozialen und familiären Netzwerkes bei Personen, die nicht in Afghanistan geboren wurden und nie dort gelebt haben ausgemacht.

Begünstigende Umstände seien hingegen etwa die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, der Zugang zu einer das Mindestniveau des Existenzminimums sichernden Arbeit, Vermögen oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland oder ein soziales oder familiäres Netzwerk (von einem solchen ist regelmäßig auszugehen).

"Die Rechtsprechung sagt: Bei der Frage, ob eine unmenschliche Behandlung droht, sind auch mögliche finanzielle Unterstützungen zu berücksichtigen", sagt Raillon. "Auch solche, die dem Abgeschobenen bei der Ausreise bezahlt werden." Dabei müsse das Geld nicht dauerhaft das Existenzminimum im Heimatland sichern, eine Art Mindesthilfe für die ersten Wochen reiche wohl aus. "Ob es am Ende ein Abschiebeverbot gab oder so eins durch Zahlungen vermieden wurde, hängt immer vom Einzelfall ab", so Raillon. Den müssten dann Gerichte überprüfen.

Höhe des "Handgelds" angelehnt an Förderprogramm?

Wie hoch die finanziellen Rückkehrhilfen sein müssen, damit ein Abgeschobener die elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum befriedigen kann und somit nicht das Recht auf ein Abschiebungsverbot nach Paragraf 60 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes, wird im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht festgelegt. Nach Angaben des Auswärtigen Amts liegt das Pro-Kopf-Einkommen in Afghanistan bei rund 220 Euro pro Jahr.

Die 1.000 Euro "Handgeld" könnten jedoch angelehnt sein an das sogenannte REAG/GARP 2.0-Programm des Bundesinnenministeriums (BMI). Mit diesem Programm bezahlt das BMI zum Beispiel ausreisepflichtige Asylbewerber bei einer freiwilligen Rückkehr in ihre Heimat oder bei der Weiterwanderung in ein anderes Land. Neben Geld für das Flug- oder Busticket ist auch eine einmalige Förderung von 1.000 Euro pro Person möglich, für Minderjährige 500 Euro.

Für das entsprechende Programm gaben Bund und Länder 2022 nach Angaben des BMI 17,5 und im vergangenen Jahr 21,5 Millionen Euro aus.