Ausreisewillige DDR-Bürger steigen am 29.9.1989 mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag.
reportage

Zeitzeugen erinnern sich Prag - Meilenstein auf dem Weg zum Mauerfall

Stand: 30.09.2024 19:24 Uhr

Vor 35 Jahren flohen 4.000 DDR-Bürger in die deutsche Botschaft in Prag - und durften schließlich ausreisen. Am Ort des Geschehens haben sich heute viele Menschen an die historischen Ereignisse erinnert.

Im Sommer 1989 wuchs die Unzufriedenheit bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in der DDR. Fast 4.000 Menschen flohen in die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag - in der Hoffnung, von dort aus in die Freiheit ausreisen zu dürfen. Dann sprach der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon des Palais Lobkowicz die erlösenden Worte zu ihnen: Sie dürfen ausreisen. Sonderzüge brachten die Flüchtlinge daraufhin nach Westdeutschland. Weitere Ausreisewellen folgten. Es war ein Meilenstein auf dem Weg zum Mauerfall.

Schulklassen aus ganz Tschechien stehen heute, 35 Jahre später, vor dem Botschaftsgebäude in langen Schlangen an. Die Botschaft in Prag erinnert mit einem "Fest der Freiheit" an die Ereignisse von damals. Partnerland der Veranstaltung ist Sachsen-Anhalt, von dort stammte Genscher. Die Gespräche mit Zeitzeugen waren schnell ausgebucht. Und auch schon vor 35 Jahren, als Steffi Trachte hier ankam, war der Andrang vor dem barocken Palais groß.

"Reporter haben uns den Weg Richtung Zaun gewiesen"

"Dann haben wir schon die Soldaten gesehen und Sicherheitskräfte und Reporter aus aller Welt", erinnert sich Trachte. Sie seien aus dem Taxi gestiegen und hätten nicht gewusst, wohin. "Reporter haben uns netterweise den Weg Richtung Zaun gewiesen."

Steffi Trachte zeigt, wo sie sich damals den Weg zum Zaun bahnte. "Hier war die Ecke. Und dann standen die Männer hier, haben uns gewunken und geholfen. Kinderwagen rüber, Oma rüber, Opa rüber, alles."

Am 25. September 1989 hatte sich die junge Frau aus Thüringen zusammen mit ihrer Mutter in den Zug gesetzt. Sie wollten raus aus der DDR. In der tagesschau hatten sie verbotenerweise gesehen, was sich in Prag abspielte. "Ich war damals 16. Ich habe die Vorschrift vom Staat bekommen, was ich später mal zu tun und zu lernen habe, wo ich hinreisen darf", erzählt Trachte. "So eine sichtbare Grenze, nur weil die Eltern einen Ausreiseantrag stellen. Also: Einfach Freiheit - das war, glaube ich, die größte Motivation."

Der Platz in den Flüchtlingsunterkünften wurde eng

Die Trachtes hatten Glück: In einem Zelt waren noch zwei Liegen frei. Das Rote Kreuz versorgte die Flüchtlinge. Die Botschaft und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren Tag und Nacht im Einsatz. Auch die Prager Bevölkerung half, warf Decken und Lebensmittel über den Zaun und schickte Postkarten ab.

Doch bald war jeder Millimeter in dem Gebäude und im Garten belegt. Es wurde kalt und matschig. Die Unruhe wuchs von Tag zu Tag - bis zum 30. September. "Dann haben wir uns versammelt und der Herr Genscher wurde angekündigt", erinnert sich Steffi Trachte. Er habe die Anwesenden zunächst einmal beruhigt. "Wir haben natürlich "Freiheit, Freiheit" gerufen. Und dann hat er diesen berühmten Satz gesprochen.“

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…" Das Ende von Genschers Satz ging unter in frenetischem Jubel. Daran erinnert sich auch Rudolf Seiters. Er verhandelte damals als Kanzleramtschef mit der SED-Führung.

Ein Verhandlungsführer erinnert sich

"Dieser Eindruck von diesen alten erstarrten Männern. Mir zu sagen: Die Menschen in der DDR lieben uns - und das sind Verräter", empört sich Seiters noch heute. "Und dann habe ich gesagt: Kein einziger Flüchtling wird aus unseren Botschaften hinausgewiesen, sondern wir vertreten die Menschenrechte." Dass es schließlich so schnell gehen würde, darüber habe er gar nicht nachgedacht.

Steffi Trachte und ihre Mutter konnten noch am selben Abend mit einem Sonderzug ausreisen. In Baden-Württemberg bauten sie sich ein neues Leben auf. Auch nach 35 Jahren sind viele Zeitzeugen der Botschaft in Prag noch eng verbunden.

Bekannte von damals treffen sich wieder

"Wo hast Du gewohnt?", "Wir waren hier im Zelt" und "Ich bin Flüchtling Nummer 36" sind Gesprächsfetzen, die heute auf dem "Fest der Freiheit" zu hören sind. Andre Remischberger war damals 26 Jahre alt und schon im Juli in die Botschaft geflohen. Er erkennt einen Weggefährten von 1989 wieder: "Das ist unser Herr Weber. Tut mir leid, den muss ich jetzt erst mal umarmen."

Hans-Joachim Weber arbeitete damals für die Botschaft der BRD in Prag. "Wenn ich so erzähle, dann muss ich immer die Tränen unterdrücken", sagt er. Aber es seien Freudentränen. "Das ist ein Zeiterlebnis, was hoffentlich nicht mehr wiederkommt in dieser Form." Für die tschechische Bevölkerung sei laut Weber ausschlaggebend gewesen, dass sie sagten: Was die DDR-Bürger können, das können wir auch.

Auf den berühmten Satz von Genscher folgten Tausende mutige Menschen, die es über Prag in die Freiheit zog. Als die DDR diesen Weg verschloss, wurden die Montagsdemonstrationen in Leipzig immer größer. Wenige Wochen später fiel die Mauer.

Verbindung zwischen Tschechien und Deutschland

Kurz darauf begann die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei. Der Schüler Arnost ist mit seiner Schulklasse aus Pribram südlich von Prag zum "Fest der Freiheit" in die deutsche Botschaft gefahren. Er will aus erster Hand zu erfahren, wie hier Geschichte geschrieben wurde: "Das sagt viel über die damalige Zeit", erklärt er. "Es ist sehr interessant, zu erfahren, wie es genau abgelaufen ist. Und wie unsere beiden Länder und Kulturen miteinander verbunden sind."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. September 2024 um 15:55 Uhr.