NATO-Ostflanke in Litauen Trainieren für den Ernstfall
Ein Panzerbataillon übt für seinen Litauen-Einsatz. Wegen des russischen Angriffskriegs könnte der jederzeit zum Kriegseinsatz im NATO-Verteidigungsfall werden. Mit diesem Wissen bereiten sich die Soldaten vor.
Es ist kurz nach sieben Uhr am Morgen, als der erste Schuss fällt, irgendwo in der Ferne. Es verspricht ein unangenehmer Tag zu werden - zwei Grad Celsius, Schneeregen, der Boden ist aufgeweicht und weiß vom Schnee aus der Nacht. An dem 60 Tonnen schweren "Leopard 2"-Kampfpanzer läuft man vorbei, ohne ihn zu bemerken. Getarnt mit Tannenzweigen steht er einige Meter abseits vom Weg in einem kleinen Waldstück.
Im Gefechtsübungszentrum des Heeres in Gardelegen in Sachsen-Anhalt übt das Panzerbataillon 363 aus Hardheim in Baden-Württemberg zwei Wochen lang den Ernstfall. Der Ernstfall, das wäre ein russischer Angriff auf den NATO-Partner Litauen. Nach Litauen wird das Bataillon im Sommer für sechs Monate verlegt, um dort die Ostflanke des Landes und damit der NATO zu schützen.
Es ist nicht der erste Einsatz der Bundeswehr in Litauen, im Gegenteil: Kurz nach der Annexion der Krim 2014 entschied die NATO, ihre Truppen entlang der Ostgrenze des Verteidigungsbündnisses zu verstärken. Im Baltikum und in Polen wurden NATO-Kräfte stationiert beziehungsweise verstärkt.
Enhanced Forward Presence (EFP) heißt der Einsatz und meint, dass es um Abschreckung geht. Das Kommando über die litauischen EFP-Kräfte hat seit sieben Jahren die deutsche Bundeswehr. Hinzugekommen ist dabei die gestiegene Bedrohungslage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, die auch an den Soldaten nicht spurlos vorbeigeht.
Multinationaler Einsatz zum Schutz der NATO-Staaten
Oberstleutnant Andreas Kirchner ist nicht nur der Kommandant auf diesem Kampfpanzer, sondern auch der Kommandeur des ganzen Hardheimer Bataillons und wird später auch das Kommando über die multinationalen Truppen in Litauen haben. Er weiß um seine Verantwortung für 1500 Soldaten unter seinem Kommando und für unsere Sicherheit in Deutschland.
Kirchner steht zu einhundert Prozent hinter der Mission: "Ich bin mit Leib und Seele Panzeroffizier und dass ich jetzt nach über 20 Jahren Dienstzeit die große Ehre haben darf, Kommandeur eines Panzerbataillons zu sein und dann auch noch der EFP-Battlegroup, und damit die Verantwortung für die Soldaten zu haben, das ist definitiv eine große Ehre und Verantwortung, aber vor allem die Erfüllung eines Kindheitstraums."
Im Gefechtsübungszentrum wird zum ersten Mal die ganze Truppe zusammengeführt, erklärt Kirchner. Die teilnehmenden Soldaten kommen aus Norwegen, den Niederlanden, Belgien, Kroatien, Luxemburg, Frankreich, Tschechien und Deutschland. Hier üben sie Gefechtssituationen mit allen für den Einsatz vorgesehenen Fahrzeugen: vom Kampfpanzer Leopard, über den Aufklärungspanzer Wiesel bis zu den Radpanzern Fuchs und Boxer.
Schnell wird klar, dass auch hier die Ausstattung der Bundeswehr nicht im Soll ist. Bis Ende 2022 sollte das Bataillon über 44 "Leopard 2" verfügen können, sie haben derzeit 14. Zwölf davon werden im Sommer nach Litauen verlegt. Wären mehr Panzer vorhanden, würden auch dort mehr eingesetzt.
Wie es mit der restlichen Ausstattung der Soldaten aussieht, die in den Einsatz gehen? Oberleutnant Julian K. antwortet darauf: "Da ist zumindest definitiv die Absicht da, die auf 100 Prozent zu bringen. Dass das gesamte Material, das die Leute vor Ort brauchen, auch tatsächlich da ist."
Litauen-Einsatz braucht schwere Panzerverbände
Bisherige Auslandseinsätze der Bundeswehr waren stets anders angelegt als dieser, erklärt Oberstleutnant Kirchner. Nach Afghanistan, Mali oder in den Kosovo seien hauptsächlich Infanterie, also bewaffnete Fußtruppen verlegt worden. Zum ersten Mal werde im Ausland solche massive Feuerkraft von Kampfpanzern stationiert.
"Es ist eine andere Mission, weil wir jetzt als Panzerbataillon in unserem Kernauftrag ins Ausland gehen", sagt Kirchner. Im Balkan und in Afghanistan sei die Panzertruppe nur sehr selten tatsächlich mit dem Kampfpanzer im Einsatz gewesen, nur mal im Kosovo ganz kurz. "Und ansonsten haben wir querschnittliche Aufgaben wahrgenommen, die andere Truppengattungen genauso gemacht haben. Jetzt ist der große Unterschied an der NATO-Ostflanke, dass wir im Kerngeschäft mit dem Kampfpanzer 'Leopard 2' unsere Aufgabe erfüllen.“
Dann gliedert sich die Panzerbesatzung in die Übung ein. Oberleutnant Julian K. führt auf den "Feldherrenhügel", eine Anhöhe, von der aus wir Überblick über einen Teil des Gefechtsübungszentrums Gardelegen haben. Es misst im Ganzen 230 Quadratkilometer. Hier können verschiedene Gefechtssituationen durchgespielt und immer wieder trainiert werden.
Bundeswehr soll Angriff Russlands verzögern
Die Feindseite in rot markierten Panzern und die Verteidiger in blau versuchen, Gebiete zu erobern. Die Roten seien ein Zug aus Gardelegen. "Die kennen hier jeden Stein", erklärt der Oberleutnant. Das sei die besondere Herausforderung für die Verteidiger aus Hardheim. Und so blinken auch schnell mehrere Leoparden der Verteidiger weiß. Das heißt, sie sind getroffen.
Geschossen wird hier nicht scharf, sondern mit einem Lasersystem. Die unversehrten Panzer ziehen sich zur nächsten Verteidigungslinie zurück, so werde das trainiert. Man könne einen russischen Angriff auf Litauen nicht allein stoppen. Aufgabe der Enhanced Forward Presence im Verteidigungsfall sei, einen Angriff so lange zu verzögern, bis die NATO Unterstützung schicke.
Im Ernstfall wären die Besatzungen der beiden getroffenen Panzer jetzt in großer Gefahr. Hier heißt es: zurück auf Start und beim nächsten Mal besser machen. Ein nächstes Mal würde es im Kriegsfall nicht geben. Deshalb legt der Kommandeur großen Wert darauf, die taktischen Manöver immer wieder zu üben: "Die Vorbereitungszeit ist nicht knapp bemessen, sondern intensiv. Man muss sehen, dass wir verschiedene Führungsebenen haben, das hat einen logischen Aufbau und trainiert sich nicht durch Handauflegen." Sein Prinzip bei der Ausbildung sei tiefe Vorbereitung, sagt Kirchner. "Lieber einen Schritt nach dem anderen, als zu schnell in die Breite zu gehen und das wird dann Murks."
Die besondere Herausforderung ist zu spüren
Murks in der Vorbereitung könnte in Litauen verheerende Folgen für die Soldaten haben. Das wissen auch deren Familien. Die Bundeswehr sorgt deshalb dafür, dass im Ausland Stationierte regelmäßig Kontakt zu ihren Familien haben können. Für die Daheimgebliebenen gibt es die "Bundeswehr-Familienbetreuung", erklärt der Kommandeur. "Das beginnt mit den Aktualisierungen, wie die Lage in Litauen ist, wo man gemeinsam zusammenkommt."
Im Sommer gebe es auch die Möglichkeit, mit den Kindern ein Sommerfest zu machen. "Und dann ist auch schon wieder ein Wochenende vergangen, wo die Angehörigen in Litauen sind", sagt Kirchner. "Das ist einfach, um auch mal Menschen zu treffen, die die gleiche Problematik zu Hause gerade haben, weil der Nachbar in der Regel kein Bundeswehrangehöriger ist.“
Dennoch seien die Gespräche vor einem solchen Einsatz intensiver als vor anderen Einsätzen. Der Panzerfahrer Stabsgefreiter Marc S. sagt, er spreche regelmäßig sehr offen mit seinen Eltern. Sie unterstützten ihn sehr in dem Beruf, den er gewählt habe, erzählt er: "Die sagen, das ist richtig und wichtig, was ich tue. Definitiv. Ich habe mich dafür entschieden, Soldat zu werden. Und dann ist das auch mein Auftrag."
Ähnlich sieht es der Richtschütze Oberfeldwebel Felix S. "Man versucht immer bestmöglich, die Ruhe zu bewahren. Und noch ist ja nichts passiert. In nächster Zeit wird auch nichts passieren, dass man sich Gedanken machen müsste als Angehöriger." Seine eigenen Gefühle beschreibt er sehr abgeklärt: "Für mich ist der Einsatz wie der Übungsplatz, wir werden da sehr gut herangeführt. Wir sind eine Freiwilligenarmee, haben dafür unterschrieben, alles dafür einzusetzen. Im schlimmsten Fall muss man da, wo wir hingehen, wissen, dass da jederzeit der scharfe Schuss fallen kann."