Pilotprojekt in Mainz Wie die Notaufnahme entlastet werden kann
Beim Krankenhausgipfel geht es auch um den Notstand in den Notaufnahmen. Immer mehr Menschen suchen hier Hilfe, statt zunächst zum Arzt zu gehen. Auch in Mainz war das so - bis die Uni-Klinik ein Pilotprojekt startete.
Im Erdgeschoss des Gebäudes 605 im Mainzer Universitätsklinikum sitzt Dr. Birgit Schulz einem Patienten gegenüber. Der junge Mann klagt über starke Kopfschmerzen und plötzliche Schwindelattacken.
Der Internistin ist schon nach wenigen Minuten klar: Dieser Patient muss nicht in die Notaufnahme. Er kann bald von einem Angehörigen abgeholt werden und soll sich die nächsten Tage zuhause erholen. Ein Rezept stellt die Ärztin noch aus.
Dr. Birgit Schulz mit einem Patienten.
Virtuelles Wartezimmer
Währenddessen sieht Schulz immer wieder auf ihren Computermonitor. Dort hat sie ein virtuelles Wartezimmer im Blick. Bei einer Patientin und ihren Daten sieht sie einen roten Punkt - das bedeutet: sofortige Behandlung nötig.
Im Nebenzimmer liegt die junge Frau auf der Behandlungsliege. Alleine gehen kann sie nicht. "Ich habe seit heute Morgen Herzrasen und starken Druck in der Brust. Außerdem bin ich ziemlich kurzatmig", erzählt die Frau mit schwacher Stimme, die erst vor wenigen Tagen ein Kind geboren hat.
Die zuständige Krankenpflegerin macht noch ein paar kurze Tests und verständigt dann den Facharzt. Für die Patientin geht es gleich weiter in die Notaufnahme. Auf die Frage, wie lange sie warten musste, antwortet die Frau, die mit einem Rollstuhl herausgefahren wird: "Es ging ziemlich schnell. Das hat nur ein paar Minuten gedauert, bis ich drangekommen bin."
Eine Arztpraxis im Krankenhaus
Beide Patienten sind in einer Art vorgeschalteter Arztpraxis im Krankenhaus vorab untersucht worden. Hier fällt die Entscheidung: weiter in die stationäre Notaufnahme oder reicht eine ambulante Behandlung? Das Universitätsklinikum Mainz und niedergelassene Ärzte haben das Pilotprojekt vor knapp vier Jahren gestartet.
Das Konzept heißt "Allgemeine Medizinische Praxis am Campus der Universitätsmedizin", kurz APC. Ziel ist, die Patienten vorab besser einzuteilen, um so eine Überlastung der Notaufnahme zu verhindern und schneller und adäquater zu behandeln.
"Notaufnahme ist die Formel 1 in der Medizin"
"Wir sind mit den Ergebnissen sehr zufrieden", bilanziert Professor Norbert Pfeiffer vom Vorstand des Klinikums. Hier arbeiteten Arztpraxis und Notaufnahme Hand in Hand. Das entlaste Patienten und Personal. "Die Notaufnahme ist die Formel 1 in der Medizin - und soll das auch bleiben", sagt Pfeiffer.
"Mit den Ergebnissen zufrieden": Klinik-Vorstand Professor Norbert Pfeiffer
Die Zahlen sprechen für das Projekt
Internistin Schulz aus der APC hat dazu konkrete Zahlen. Demnach kamen im vergangenem Jahr 4227 Patienten in die APC. "Nur 18 Prozent sind nach der Eingangsuntersuchung bei uns weiter in die Notaufnahme gegangen. 71 Prozent haben wir hier in der Praxis behandelt. Die übrigen wurden zu weiteren Untersuchungen geschickt. Auch das waren keine Notfälle", erklärt die Ärztin. "Die Kollegen in der Notaufnahme können so besser arbeiten, weil sie nur noch die Schwerkranken behandeln. Auch die Patienten sind insgesamt viel zufriedener. Wir haben mehr Zeit für sie, was ganz wichtig ist."
Nicht nur in Mainz stieg in den vergangenen Jahren der Druck auf die Notaufnahmen. Bundesweit stieg die Zahl der Menschen, die direkt in die Notaufnahmen kamen. 2009 wurden knapp 15 Millionen Notfallpatienten behandelt. Zehn Jahre später waren es bereits mehr als 19 Millionen - ein Plus von 28 Prozent.
Seit vier Jahren läuft an der Uni-Klinik in Mainz das Pilotprojekt - mit Erfolg.
Mainzer Modell bundesweit?
Seit Jahren diskutieren Politik und Gesundheitsvertreter über eine Reform der Notfallversorgung. Neben Notaufnahmen fordern auch Rettungsdienste eine bessere Steuerung der Patienten. Das Bündnis Rettungsdienst warnte im Dezember, das System drohe zusammenzubrechen.
Deshalb hat die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eingerichtete Expertenkommission vorgeschlagen, in Krankenhäuser sogenannte integrierte Notfallzentren (INZ) einzurichten. Dort soll gleich bei der Vorstellung der Patienten entschieden werden, wo sie weiterbehandelt werden sollen: in einer angeschlossenen Praxis oder doch in der Notaufnahme.
Hospitäler und Kassenärzte sollen verpflichtet werden, sich an den Zentren zu beteiligen. Zudem soll es Integrierte Leitstellen (ILS) geben, um telefonische Notrufe besser zu ordnen und so die Patienten von Anfang an entsprechend einzuordnen.
Unterschiedliche Reaktionen
Der Bundesgesundheitsminister signalisierte bereits Zustimmung für die Idee der Experten: "Patienten in Not schnell und effektiv zu helfen ist Ziel einer guten Akutversorgung. Dafür müssen wir vorhandene Strukturen aufbrechen und neu ordnen. Leitgedanke muss dabei sein, dass Versorgung dort stattfindet, wo sie medizinisch auch sinnvoll ist. Für eine solche Reform sind die Empfehlungen der Krankenhauskommission eine gute Grundlage."
Das Konzept der Kommission trifft auf unterschiedliche Reaktionen. Die AOK begrüßt die Vorschläge: "Patienten brauchen endlich eine zentrale Anlaufstelle und eine Notfallversorgung aus einer Hand", sagte die Vorstandsvorsitzende Carola Reimann.
"Mehr Schatten als Licht" sieht dagegen die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Das Ganze wirke eher wie ein "Krankenhaus-wünsch-dir-was", kritisierte der stellvertretende Vorstandschef Stephan Hofmeister. Tagsüber seien die Praxen ohnehin geöffnet und stemmten mit jährlich rund 600 Millionen Behandlungsfällen den Großteil der Patientenversorgung. "Es lässt sich aber kaum eine Praxis betreiben, wenn man parallel noch regelhaft häufig Notdienste machen muss. Die Kommissionsvorschläge stellen nicht wirklich einen Beitrag dar, knappe Ressourcen optimal zu bündeln und zu integrieren."
Mainzer Uni-Klinik sieht sich als Vorreiter
Aber warum kommen immer mehr Menschen direkt in die Notaufnahmen? Klinikvorstand Pfeiffer hat die Entwicklung in Mainz über Jahre beobachtet: "Zum einen gibt es immer weniger den Landarzt, der rund um die Uhr da ist. Zum anderen sind die Menschen auch besser informiert: Wenn ich etwa Herzschmerzen habe, ist das vielleicht ein Infarkt? Dann brauche ich ein Zentrum, wo ich mich schnell vorstellen sollte."
Deshalb hofft Pfeiffer jetzt auf eine rasche Entscheidung der Bundesregierung - auch im Eigeninteresse, denn der APC in Mainz wird derzeit noch von den Landesverbänden der Krankenkassen sowie vom Verband der Ersatzkassen in Rheinland-Pfalz bezahlt. Ende nächsten Jahres endet die Finanzierung.
"Das Modell muss auch bundesweit kommen, aber es muss dann auch dauerhaft finanziert werden. Bislang gibt es noch keine geregelte Vergütung." Und wenn das Konzept und die damit verbundene Finanzierung doch nicht kommen sollte? "Dann werden wir versuchen, das Modell fortzuführen. Wir sind davon überzeugt."