Gewalt bei Einsätzen Die Definitionsmacht der Polizei
Welche Form von Gewalt darf die Polizei anwenden? Ein Forschungsteam hat 3300 Betroffene dazu befragt und Interviews mit Einsatzkräften geführt. Die Antworten fallen unterschiedlich aus.
Was darf die Polizei? Die Frage kam auch in Deutschland in den vergangenen Jahren immer wieder auf - etwa bei Einsätzen bei Demonstrationen und Fußballderbys, aber auch bei Personenkontrollen. Einzelne Videos von Polizeieinsätzen wurden bei Twitter und Instagram mit dem Hashtag #Polizeigewalt verbreitet - so etwa bei der Kontrolle gegen einen 15-Jährigen in Hamburg im August 2020, der wegen einer Fahrt mit dem E-Roller auf dem Gehweg von mehreren Polizisten überwältigt wurde. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) teilte damals mit, sie könne in dem Video keine Polizeigewalt erkennen.
Die Bewertungen von Gewaltanwendungen im Polizeieinsatz gehen oft weit auseinander. Genau in diesem Spannungsfeld befinden sich die Ergebnisse des Forschungsprojekts "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen" (KviAPol), die morgen in dem Buch "Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung" ausführlich präsentiert werden.
Die Forschenden Laila Abdul-Rahman, Hannah Espin Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein haben dafür mehr als 3300 Betroffene befragt und mehr als 60 qualitative Interviews mit Vertretern von Polizei, Rechtswesen und Opferberatungsstellen geführt. Die Stichprobe ist nicht repräsentativ. KviAPol ist ein unabhängiges Forschungsprojekt und unterscheidet sich damit von der Studie zum Alltag von Polizistinnen und Polizisten, die unter Bundesinnenminister Horst Seehofer in Auftrag gegeben wurde.
2790 Ermittlungsverfahren gegen Einsatzkräfte
Ob polizeiliche Gewalt als übermäßig bewertet wird, kann von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen. Das Forschungsteam weist in der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse darauf hin, dass es sich in der Studie auf Handlungen bezieht, "die aus Perspektive der sie bewertenden Personen die Grenzen des Akzeptablen überschritten haben". Das bedeute nicht zwangsläufig, dass die Gewalt auch als rechtswidrig eingestuft werde.
Im Jahr 2021 gab es 2790 Ermittlungsverfahren gegen Polizeikräfte wegen rechtswidriger Gewaltausübung. In mehr als 90 Prozent der Verdachtsfälle werden die Strafverfahren eingestellt - in nur zwei Prozent der Fälle wird laut Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Hinzu komme den Forschenden zufolge, dass ein Großteil der Betroffenen etwa wegen schlechter Erfolgsaussichten oder Sorge vor Repressionen die Fälle gar nicht erst zur Anzeige brächten. Nur 14 Prozent der Befragten in der Studie hätten angegeben, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe.
Die meisten Betroffenen von übermäßigen Gewaltanwendungen sind der Studie zufolge bei Demonstrationen und politischen Aktionen mit der Polizei in Kontakt gekommen (55 Prozent), danach folgten Fußballspiele und andere Großveranstaltungen (25 Prozent). Am häufigsten waren Männer von den übermäßigen Gewaltanwendungen betroffen (72 Prozent).
Schwere Verletzungen und psychische Folgen
Den Angaben der Befragten zufolge wendeten vor allem männliche Polizisten im Alter bis 30 Jahre Gewalt an. Häufig waren offenbar mehrere Einsatzkräfte anwesend, die aber nicht alle Gewalt anwendeten. In 26 Prozent der Fälle ging die Gewalt demnach nur von einem Beamten aus. Häufig gab es Schläge oder Stöße, bei Großveranstaltungen spielten auch Reizgas und Wasserwerfer eine Rolle.
Schwere Verletzungen wie Knochenbrüche oder Verletzungen an Gelenken und Sinnesorganen trugen 19 Prozent der Befragten davon. Die Betroffenen berichteten auch von schweren psychischen Folgen.
Unsicherheit bei der Rechtmäßigkeit
"Situationen polizeilicher Gewaltanwendung können als komplexe, häufig unübersichtliche und spannungsgeladene Interaktionsgeschehen beschrieben werden, die durch ein Zusammenwirken wechselseitiger (Re-)Aktionen sowie äußerer Gegebenheiten bedingt sind", schreiben die Forschenden in der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse. Die befragten Betroffenen hätten zu 25 Prozent das polizeiliche Einschreiten als Grund für die Eskalation angegeben. 19 Prozent hätten aber auch beschrieben, dass das Nichtbefolgen von Anweisungen zur Eskalation geführt habe.
In eskalierenden Situationen kann eine Gewaltanwendung aus polizeilicher Sicht notwendig sein. "Das Recht konzipiert polizeiliche Gewalt als Ausnahmebefugnis, die nur in sehr engen Grenzen erlaubt ist", so die Forschenden. In den Interviews hätten Polizeikräfte immer wieder betont, das Recht sei handlungsleitend für sie. Es habe sich aber gezeigt, "dass Gewaltanwendungen zum polizeilichen Berufsalltag gehören und entsprechend normalisiert werden", so die Forschenden. Es gebe Unsicherheit und verschiedene Vorstellungen davon, was rechtmäßig sei.
Die Schwelle dafür, was als übermäßig beschrieben werde, liege bei Polizistinnen und Polizisten vergleichsweise hoch, stellen die Forschenden fest. Für die Betroffenen sei es dagegen nicht nur darum gegangen, ob die Gewaltanwendung rechtmäßig sei, sondern auch um ihre Legitimität - ob das polizeiliche Handeln also als fair und gerecht wahrgenommen wurde.
"Dominanz herstellen"
"Der Polizei kommt in der Gesellschaft eine besondere Definitionsmacht zu, die als funktionale Dominanz beschrieben werden kann", erklären die Forschenden. Es sei gerade die Aufgabe der Polizei, Situationen verbindlich zu klären und bestimmte Normen, Interessen und Deutungsweisen durchzusetzen. Polizeiliche Gewaltausübung sei eine Praxis, um diese Dominanz in bestimmten Situationen herzustellen. Aber auch bei der nachträglichen Betrachtung habe die Polizei eine besondere Definitionsmacht.
"Für Betroffene übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen zum Beispiel entsteht so eine Situation, in der sie ohne Mechanismen, die der polizeilichen Dominanz entgegenwirken, in der Praxis kaum zu ihrem Recht kommen können", so die Forschenden.