Versuch in Sachsen Funktioniert Schule auch ohne Noten?
In Sachsen testen elf Schulen vier Jahre lang ein Bewertungssystem ohne Zensuren. Die Hoffnungen in das alternative Bewertungssystem sind groß, die Befürchtungen mancher Eltern auch.
Seit September gibt es in der Grundschule "Emil Ufer" in Olbersdorf in Ostsachsen keine Noten mehr - zumindest in den Fächern Musik, Kunst, Werken, Sport, Ethik, Religion und Englisch. Die Schule beteiligt sich an einem landesweiten Versuch: Vier Jahre lang darf sie erproben, wie es sich auswirkt, wenn keine Noten vergeben werden. Ausgenommen sind die Fächer Mathematik, Deutsch und Sachkunde, weil sie relevant für die Schulempfehlung sind.
Schulleiter Gordon Alisch hat sich gemeinsam mit Lehrern und Eltern dafür entschieden, die Noten mindestens für den Versuchszeitraum von vier Jahren in all diesen Fächern abzuschaffen. Er erhofft sich davon "Druck wegzunehmen von den Kindern, aber auch den einzelnen Kindern gerecht zu werden, weil die natürlich mit ganz verschiedenen Voraussetzungen kommen. Und Noten können das schlecht abbilden", sagt er.
Eigenes Bewertungsssystem erarbeitet
Er sitzt in T-Shirt und Jeans in seinem Büro vor einem Aktenschrank und blättert durch einen Ordner. Bei einem Blatt mit der Überschrift "Werken - Einschätzungsbogen - Klasse 4" stoppt er. Darauf stehen 17 verschiedene Punkte, die inhaltliche Kompetenzen oder die Arbeitsweise betreffen: von "zeigt Einfallsreichtum und individuelle Lösungen" über "erkennt und findet Fehler an technischen Objekten" bis hin zu "kennt Einsatzbereiche von Holz- und Kunstwerkstoffen".
Mit Bögen dieser Art sollen die Schüler nun Feedback bekommen. Hinter den einzelnen Punkten können vier Symbole angekreuzt werden, von einem zarten Pflänzchen, das gerade erst aus dem Boden keimt, bis zu einem ausgewachsenen Baum. Die vier Entwicklungsstufen der Pflanze stehen dabei für den Entwicklungsstand bestimmter Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder. Das Bewertungssystem haben sich die Lehrer der Schule selbst erarbeitet.
Gemischte Reaktionen bei den Eltern
Die Lehrer seien offen gewesen für den Versuch: "Im Großen und Ganzen war da schon ziemlich schnell die einhellige Meinung: 'Na klar, wir machen das sehr gerne oder wir können es zumindest ausprobieren'", berichtet Alisch.
Bei den Eltern sei es "spannend" gewesen: "Da gab es viele, die haben sofort 'Hurra' gerufen und andere waren nicht begeistert. Die haben ganz viel recherchiert und sind auch wirklich in Fachgespräche gekommen mit uns", sagt der Schulleiter.
Letztendlich stimmte der Elternrat zu. "Wir finden es zwar nicht so gut, aber machen Sie mal. Wenn man es nicht versucht, kann man es ja nicht herausfinden", sei der Tenor gewesen. "Das fand ich total toll!", sagt Alisch, der froh über die Offenheit und das Vertrauen der Eltern ist.
Zu den Eltern, die gegen die Teilnahme an dem Versuch waren, gehört auch Uta Neumann. "Und ich kann auch heute noch nicht sagen, dass ich davon begeistert bin", sagt sie. "Ich denke, Kinder wissen bei einer Zensur, wo sie stehen." Diese Klarheit würden sich die Kinder wünschen. Sie habe sich aber auch sagen lassen, dass die Schüler sich durch das neue Bewertungs- und Rückmeldungssystem besser einschätzen könnten.
Versuch wird wissenschaftlich begleitet
Den Anstoß zu dem Versuch hatten Expertinnen und Experten gegeben, die im Rahmen des Projektes "Bildungsland Sachsen 2030" im Auftrag des Freistaates Handlungsempfehlungen für die Schule der Zukunft erarbeitet hatten.
Kultusminister Christian Piwarz (CDU) ermöglichte Schulen daraufhin, den Verzicht auf Noten in den Nebenfächern zu erproben. Wer mitmachen wollte, konnte sich für die Teilnahme an dem Versuch bewerben. Elf Schulen nehmen teil, zehn Grund- und eine Sonderschule.
"Ob mit Noten oder ohne - alles hat seine Vor- und Nachteile. Der Schulversuch soll mehr Klarheit und Sicherheit in der Bewertung von Schülerleistungen bringen", erklärte er. Der Schulversuch wird von der TU Dresden wissenschaftlich begleitet.
"Es gibt Kinder, die können einfach nicht singen"
Die Lehrerin Antje Berger ist froh, dass sie keine Noten mehr geben muss. Sie unterrichtet Kunst und Musik in der Olbersdorfer Grundschule. "Bestimmte Fächer werden mit Noten für Kinder zu Problemen", meint sie und veranschaulicht es mit einem Beispiel: "Es gibt Kinder, die können einfach nicht singen. Und wenn man denen dann sagt: Du hast den Text gelernt, den Rhythmus kannst du auch. Das ist eine drei oder eine vier, dann sind die frustriert."
Es käme ganz anders bei den Schülern an, wenn man ihnen zum Beispiel zurückmeldete: "Du hast die Melodie noch nicht so richtig drauf, du kannst aber super den Rhythmus halten. Wir arbeiten an der Melodie." Dadurch fühlten die Kinder sich nicht "in eine Schublade gedrückt". Stattdessen könne man so gemeinsam mit ihnen etwas erarbeiten und sie bei der Weiterentwicklung viel besser unterstützen, statt sie zu demotivieren.
Und was sagen die Schüler? "In Sport und Kunst finde ich es eigentlich ziemlich schade", sagt die zehnjährige Anna aus der vierten Klasse. "In Kunst, weil wir eigentlich alle ziemlich kreativ sind und gerne auch mal Noten dafür hören würden und in Sport, weil Sport mein Hobby ist", erklärt sie. In Ethik finde sie den Verzicht auf Noten aber gut, denn "nicht jeder versteht so ein Thema".
Gemischte Gefühle hat auch ihre Klassenkameradin Gerda: "Ich finde es eigentlich ganz gut, weil die Kinder dann weniger Druck haben", sagt sie. "Trotzdem ist es manchmal auch blöd, weil in der nächsten Schule geht es dann wieder mit Noten los und dann muss man sich neu daran gewöhnen."
Hin zum "nachhaltigen" Lernen?
An der Universitätsschule Dresden wird schon seit 2019 das Lernen ohne Noten erprobt. Die Professorin der Erziehungswissenschaften Anke Langner begleitet das Projekt wissenschaftlich.
Nicht nur, aber vor allem die Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen schwerfällt, würden vom Verzicht auf Noten profitieren, sagt die Erziehungswissenschaftlerin. "Wir sehen, dass sie leistungsfähiger sind. Sie werden nicht so degradiert."
"Ich bin dafür, Noten abzuschaffen. Denn es ist ganz wichtig, dass wir zu einem nachhaltigen Lernen kommen und von diesem Bulimie-Lernen wegkommen", sagt sie. Mit Bulimie-Lernen ist gemeint, dass Schülerinnen und Schüler vor Prüfungen sehr intensiv lernen und danach das Gelernte schnell wieder vergessen. Noten würden dieses Verhalten befördern, weil über sie Druck aufgebaut werde.
Andererseits warnt Langner davor, zu viel vom Abschaffen von Noten allein zu erwarten. Es sei nur dann wirklich sinnvoll, wenn die Maßnahme Teil einer neuen Lernkultur sei. Diese Lernkultur solle zum Beispiel kreatives und lösungsorientiertes Denken sowie Teamfähigkeit zum Ziel haben. Wenn man diese Kompetenzen als Ziele definiere, müssten Schüler auch mehr Verantwortung für den Lernprozess übernehmen und mehr zusammenarbeiten.
Es reiche es nicht, die Noten einfach abzuschaffen, sondern man müsse sie durch geeignete Feedbackstrukturen ersetzen, betont Langner. Die Schülerinnen und Schüler bräuchten Feedback, um zum Beispiel zu wissen, was sie besser machen können.
Erste positive Effekte
Antje Berger, die Olbersdorfer Kunst- und Musiklehrerin, ist überzeugt davon, dass das neue System an ihrer Schule auch zu viel klarerem Feedback für die Schülerinnen und Schüler und zu mehr Freude am Lernen führt. Erste positive Effekte könne sie nach den ersten Bewertungen mit dem neuen System schon sehen. Manche Schüler seien jetzt freier, hätten mehr Spaß am Unterricht, weil sie nicht mehr "bestraft" würden, für das, was sie nicht können.
Nach dem Gespräch geht Berger in ihre zweite Klasse zurück. Alle malen konzentriert, es ist ganz still. "Sehen sie, wie motiviert die sind. Ganz ohne Noten", sagt sie.