Menschenmenge

Debatte nach Solingen "Es wird nach Schuldigen gesucht"

Stand: 17.09.2024 16:29 Uhr

Der tödliche Anschlag in Solingen hat eine heftige Debatte über Zuwanderung und Asylpolitik ausgelöst. Was macht das mit Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger in Deutschland leben?

Von Lena Crohmal, WDR

Turgay Tahtabas ist in der Türkei geboren, vor 35 Jahren kam er nach Deutschland und lebt jetzt in Essen. Mittlerweile lebt er länger hier als in seinem Heimatland und hat einen deutschen Pass. Dennoch fühle er sich immer noch "wie ein Gast, der sich ständig beweisen muss".

Er kann die Maßnahmen der Bundesregierung wie die Verschärfung der Grenzkontrollen nachvollziehen und hält sie für legitim: "Unser privates Eigentum wollen wir doch auch beschützen. Ich sehe das aber nur als Symptombehandlung. Die Stimmung im Land ist gar nicht gut und es wird nach Schuldigen gesucht."

Stimmung ist geteilt

Kerim aus Köln ist überzeugt, dass Deutschland weniger Migranten aufnehmen soll. Der 25-Jährige ist hier geboren und hat familiäre Wurzeln in Äthiopien. "Das Land hat sich sehr verändert. Deutsche Kultur und Tradition gehen dabei verloren. Meine Eltern und ich sind in Köln aufgewachsen und wir merken eine große Veränderung", sagt Kerim. Auch er spürt, dass der Anteil an Migranten zugenommen hat. Gleichzeitig fühlt er sich von den Erfolgen rechter Parteien bedroht und will das Land verlassen.

Anders als Kerim sieht die Situation von Adil aus: Der 33-jährige Ingenieur fühlt sich wohl in Deutschland. "Man hat hier alle Möglichkeiten, ob man jetzt arabischer oder afrikanischer Herkunft ist. Solange man etwas tut, kann man seine Ziele erreichen", sagt Adil und betont, dass hier jeder negative Erfahrung unabhängig von der Herkunft machen könnte.

Zu viel Unwissenheit

Der 58-jährige Turgay Tahtabas hat, wie er selbst sagt, "alles in Deutschland erreicht": vom Straßenreiniger bis zum Bundesverdienstkreuzträger. Vor neun Jahren hat er das "Zukunft Bildungswerk" zur Förderung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gegründet, um eigene Erfahrung mit den anderen Zuwanderern zu teilen.

Der Bildungsmanager ist überzeugt davon, dass oft durch Unwissenheit ein falsches Bild von Menschen mit Migrationshintergrund vermittelt werde. Wohnungsmangel und Armut würden Migranten in eine Ecke drängen und so blieben sie vom Rest der Gesellschaft isoliert. Und das würden rechte Parteien und Populisten ausnutzen, sodass die Intoleranz zunehme, betont der 58-Jährige.

Kritik an Integrationspolitik

Tahtabas ist der Meinung, dass der Staat mehr unternehmen müsse, um Bevölkerungsgruppen in Deutschland stärker zu integrieren. "Die Mittel für die Integration werden wegen zu viel Bürokratie zu sehr verpulvert, anstatt sie gezielt anzuwenden." Jetzt versuche jeder, sich "auf eigene Faust aus der Situation zu retten", zum Beispiel, indem er für das eigene Kind einen Platz in einer Schule sucht, die etwa weniger Schüler mit Migrationshintergrund besuchen.

"Es gibt Klassen, wo von 30 Schülern 29 muslimisch geprägt sind. Das wird der Integration nicht helfen", so Tahtabas. Daher findet er die aktuelle Debatte, wie sie geführt wird, nicht gut. Weil sie "zu unsachlich und ohne klare Zielsetzung" ist, meint der 58-Jährige.

Dennoch hat sich auch Turgay Tahtabas entschieden, zusammen mit seiner Frau Deutschland zu verlassen. Es habe viel Kraft gekostet, immer nur als Gast und "guter Migrant", insbesondere in Wahlkampfzeiten, wahrgenommen zu werden und nicht einfach nur als Mitbürger aus Essen. "Wir kommen dann nur zu Besuch nach Deutschland", sagt er - um ihre Kinder wiederzusehen.