Tödliche Schüsse in Hamburg "Sofortiges Handeln hat viele Leben gerettet"
Vier Minuten nach den ersten Notrufen waren die ersten Polizisten vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg und verhinderten offenbar Schlimmeres. Bei der Amoktat wurden acht Menschen getötet - auch ein ungeborenes Kind.
Es ist eine der schlimmsten Straftaten in der jüngsten Geschichte Hamburgs, so drückte es Innensenator Andy Grote zu Beginn der Pressekonferenz nach dem Gewaltverbrechen in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg aus. Acht Menschen - darunter der mutmaßliche Täter - starben, acht Menschen wurden verletzt, vier davon schwer.
"Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind", sagte der SPD-Politiker. Grote sprach von einer Amoktat.
Knapp 50 Notrufe - auch aus dem Gebäude
Gegen 21.04 Uhr gestern Abend waren die ersten Notrufe bei Feuerwehr und Polizei eingegangen. Die Anrufer berichteten von Schüssen im "Königreichsaal" der Gemeinde, wo bis 20.45 Uhr eine Veranstaltung stattfand. Im Anschluss blieben viele der Teilnehmenden, um sich zu unterhalten.
Nach ersten Erkenntnissen näherte sich der mutmaßliche Täter Philipp F. von der Nordseite des Gebäudes. Auf dem Parkplatz feuerte er zehnmal auf das Auto einer Frau, die gerade am Rangieren war. Sie konnte leicht verletzt fliehen. Im Anschluss soll der Mann auf eine Fensterscheibe des Saals geschossen haben. Der Leiter der Schutzpolizei, Martin Tresp, sprach von "permanenten Schüssen", während sich Philipp F. Zugang verschaffte.
Spezialkräfte der Polizei nach Schüssen in Hamburg-Alsterdorf
Spezialkräfte waren in der Nähe
Bereits vier Minuten später seien die ersten Einsatzkräfte vor Ort gewesen - und verhinderten so möglicherweise Schlimmeres, sagte Senator Grote. Gegen 21.11 Uhr hatten sich die Kräfte der Spezialeinheit USE Zugang zum Gebäude verschafft und stoppten so offenbar den Täter. Philipp F. sei daraufhin in das erste Obergeschoss des Gebäudes geflüchtet, wo er sich nach Polizeiangaben selbst tötete. Bei sich trägt der tote Schütze demnach in einem Rucksack und am Körper noch 22 volle Magazine für seine Pistole - zusätzlich zu den neun Magazinen mit 135 Patronen, die er zuvor verschoss.
Die "Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen" (USE) ist noch relativ jung. Seit Oktober 2020 wird sie überall dort eingesetzt, wo ein erhöhtes Gefährdungspotenzial vorhanden ist. Am Donnerstagabend war die Spätschicht der Einheit zufällig in der Nähe - der Feierabend habe kurz bevor gestanden, als die Notrufe eingingen, berichtete Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Die Beamten seien besonders geschult für Amok- und Terrortaten. Meyer betonte, dass das sofortige Handeln der USE vielen Menschen das Leben gerettet habe.
Die Polizei geht derzeit davon aus, dass Philipp F. alleine handelte. Am Abend habe es Hinweise auf einen zweiten möglichen Täter gegeben, weswegen die Beamten mit Booten, Straßensperren und Helikopter fahndeten. Diese Hinweise hätten sich nicht bestätigt, sagte der Polizeipräsident.
Acht Tote - darunter auch ein ungeborenes Kind
Der mutmaßliche Schütze tötete sechs Menschen zwischen 33 und 60 Jahren sowie einen Fötus, der sieben Monate alt war. Die Mutter überlebte. Unter den acht Verletzten sind vier Schwerverletzte. 20 Menschen konnten das Gebäude äußerlich unverletzt verlassen.
Der mutmaßliche Täter soll ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas sein. Er lebt seit 2014 in Hamburg und ist Sportschütze. Seine Waffe, eine halbautomatische Heckler und Koch des Typs P30, soll auch die Tatwaffe sein.
Mögliche Hinweise auf psychische Probleme
Offenbar gab es einen Hinweis auf mögliche psychische Probleme bei Philipp F.. Im Januar sei ein anonymes Schreiben bei der Polizei eingegangen, in dem eine Überprüfung der Waffenfähigkeit gefordert wurde. Philipp F. leide an einer psychischen Erkrankung, so der anonyme Schreiber und pflege eine besondere Wut auf alles Religiöse - insbesondere auf die Zeugen Jehovas, die er aus freien Stücken aber nicht im Guten verlassen habe.
Der 35-Jährige habe sich seit Dezember im legalen Besitz der halbautomatischen Pistole befunden. Eine unangekündigte Kontrolle der Polizei habe keine Hinweise geliefert, die das anonyme Schreiben bestätigt hätten, so der Polizeipräsident. Die Verwahrung der Waffe im Tresor sei eingehalten worden und Philipp F. habe sich sich einsichtig gezeigt, als ihn die beiden Polizeibeamten wegen eines Projektils außerhalb des für Waffe und Munition vorgesehenen Tresors verwarnt hätten. "Die rechtlichen Möglichkeiten der Beamten waren damit ausgeschöpft", sagte Meyer.
Aufgrund der Ergebnisse der Kontrolle habe es nach damaligem Stand keinen Anlass für weitere Maßnahmen gegeben. "Wir müssen uns das kritisch anschauen, ob die rechtlichen Befugnisse angepasst werden müssen", sagte Meyer.
Große Anteilnahme aus der Bundespolitik
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reagierte "mit großem Entsetzen" auf die Tat. "Meine Gedanken sind bei den Toten und ihren Familien - ihnen gilt meine tiefe Anteilnahme an diesem Tag des Schmerzes", äußerte sich eine Sprecherin im Namen Steinmeiers auf Twitter. Der Bundespräsident zeigte sich überzeugt, dass viele Menschen in Deutschland in diesen Stunden aufrichtiges Mitgefühl empfänden und wünschte den Verletzten baldige Genesung. Ebenso äußerte sich Bundestagspräsidentin Bärbel Bas "tief erschüttert".
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich fassungslos. "Meine Gedanken sind in den schweren Stunden bei den Opfern und ihren Angehörigen", sagte der SPD-Politiker. "Wir trauern um diejenigen, die so brutal aus dem Leben gerissen wurden."
Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte einen Besuch am Freitagnachmittag am Tatort an. Die SPD-Politikerin wolle den Polizisten und Rettungskräften persönlich für ihren Einsatz danken, sagte ihr Sprecher.
Hamburger Bürgermeister Tschentscher bestürzt
Die Zeugen Jehovas zeigten sich "tief betroffen von der schrecklichen Amoktat" auf einer Veranstaltung ihrer Gemeinschaft. "Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen", hieß es in einem noch in der Nacht veröffentlichten Statement.
Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher bekundete per Tweet sein "tiefes Mitgefühl" mit den Angehörigen der Opfer.