Rekonstruktion einer Trennung So verlief die letzte Nacht der Ampelkoalition
Deutschlands erste Ampelkoalition auf Bundesebene ist Geschichte. Darüber, wer das Ende herbeigeführt hat, gibt es unterschiedliche Erzählungen. Wie lief der Abend wirklich?
Als am Freitag das Lindner-Papier im politischen Berlin wie eine Bombe einschlägt, ist den Ampel-Partnern von SPD und Grünen klar: FDP-Chef Christian Lindner sucht einen Weg, wie er die Ampelkoalition verlassen kann. Auf einmal kommt eine Dynamik in die Debatte, die das Land schon länger führt.
Im Umfeld der Veröffentlichung bekommt die SPD-Spitze in der vergangenen Woche auch die Information, dass die FDP einen Sonderparteitag plane. Im Kanzleramt bereitet man sich auf den Showdown vor.
Zwei Reden vorbereitet
Mindestens zwei Reden werden offenbar in Auftrag gegeben. Eine davon hat Kanzler Olaf Scholz gestern in seinem Statement gehalten. Auch eine andere hätte vorgelegen, darin hätte der SPD-Politiker lobende Worte gefunden, dass man sich in schwierigen Zeiten doch noch zusammengerauft habe.
Lindner erklärt heute öffentlich, er habe Scholz die Neuwahl-Idee schon am Sonntagabend vorgeschlagen. Spätestens da wusste der Kanzler also, worauf es in dieser Woche hinauslaufen würde. Am Ende kommt es aber doch anders, als Lindner vorgeschlagen hat. Die Ampel zerbricht im Koalitionsausschuss am frühen Mittwochabend. Es gibt kein geregeltes Ende der Koalition.
Was genau in den entscheidenden zwei Stunden im Kanzleramt passierte, darüber gibt es unterschiedliche Sichtweisen - je nachdem, wen man fragt. Das Team des ARD-Hauptstadtstudios hat mit vielen Quellen gesprochen. Hier ist der Versuch einer Rekonstruktion:
Scholz' Bedingung
Als die Spitzen der Koalition im Kanzleramt eintreffen, hat Scholz ein elfseitiges Papier vorbereitet. Es ist die Essenz aus den vorhergegangenen Treffen der sogenannte Dreierrunde, bestehend aus Scholz, Robert Habeck und Lindner. Darin stehen Vorschläge für mögliche Maßnahmen der Koalition, um der deutschen Wirtschaft auf die Beine zu helfen.
Habeck signalisiert, dass er diesen Weg für möglich hält. Für den Kanzler gibt es aber eine Bedingung: In den Gesprächen macht er klar, dass er auf einen sogenannten Überschreitungsbeschluss bestehen wird.
Hinter dem technischen Begriff steckt eine Ausnahmegenehmigung für die Schuldenbremse, die der Bundestag in Zeiten außergewöhnlicher Notlagen beschließen kann. Schon zu Corona-Zeiten hatten die Ampelkoalition und auch die Große Koalition vorher von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Der Kanzler begründet seine Idee mit Hilfen in Höhe von drei Milliarden Euro, die die Ukraine brauche, um gut über den Winter zu kommen.
Verfassungsrechtlich ist aber umstritten, ob die derzeitige Situation eine solche Notlage begründen könnte. FDP-Teilnehmer sprechen davon, dass der Kanzler sich etwas habe genehmigen wollen. In Wahrheit sei es um den Ausgleich des kompletten Haushaltsdefizits gegangen. Die Begründung mit Hilfen für die Ukraine sei nur vorgeschoben gewesen.
Lindners Plan
Der FDP-Finanzminister will das auf keinen Fall. Er stellt stattdessen seinen Plan vor. Man könne doch einen Haushalt beschließen und dann gemeinsam als Ampelkoalition eine vorgezogene Bundestagswahl anstreben. Die Bundesminister und der Kanzler könnten bis dahin geschlossen im Amt bleiben. Diesen Vorschlag lehnt der Kanzler umgehend ab. Sein Argument: Wenn die Ampel einen Haushalt beschließe, sei eine vorgezogene Wahl gar nicht mehr nötig.
Die Aussprache geht streng nach Rednerliste vor. Als Lindner erneut dran ist, fragt er laut Teilnehmern den Kanzler, ob dieser ihn entlassen werde, wenn er der Ausnahme für die Schuldenbremse nicht zustimme.
Zunächst bekommt Linder darauf keine Antwort, weil der nächste Redner dran ist: Christian Dürr, der FDP-Fraktionschef. An dieser Stelle gibt es unterschiedliche Angaben aus dem Teilnehmerkreis. In einer Variante unterbricht Lindner Dürr mit dem Satz. "Christian, ich glaube, das macht jetzt keinen Sinn, Olaf muss erst meine Frage beantworten." In einer anderen Variante lässt Lindner Dürr aussprechen und setzt dann zur Nachfrage an.
Der Kanzler antwortet zunächst ausweichend. Er müsse dann seine Konsequenzen ziehen. Davon werde Lindner aber sicher nicht erst durch die Presse erfahren. Im Anschluss gibt es offenbar eine Sitzungsunterbrechung.
Meldung in der Bild-Zeitung
Die Teilnehmer ziehen sich zu getrennten innerparteilichen Besprechungen zurück. Genau in diese Pause platzt eine Meldung der Bild-Zeitung. Das Boulevardblatt meldet, Lindner habe Scholz Neuwahlen angeboten. Für die SPD eine Provokation. Man vermute, dass Lindner selbst die Quelle des Leaks sei.
Als die Sitzung fortgesetzt wird, verlangt der Kanzler von Lindner Klarheit, ob dieser seine Vorschläge mittragen könne. Lindner verneint. Die Reaktion des Kanzlers kommt schnell.
"Schade, aber ist so"
Teilnehmer berichten dem ARD-Hauptstadtstudio, Scholz habe dann gesagt: "Dann werde ich den Bundespräsidenten bitten müssen dich zu entlassen." Lindner habe geantwortet: "Dann haben wir jetzt Klarheit, schade, aber ist so." Der genaue Wortlaut lässt sich allerdings nicht mehr nachvollziehen.
Im Anschluss habe der Kanzler die FDP-Minister jeweils um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Was dort besprochen wurde, liegt weitgehend im Dunklen. Auch ist nicht klar, ob alle FDP-Minister in das Gespräch eingewilligt haben.
Die Vermutung liegt aber nahe, dass der Kanzler der Bildungsministerin, dem Justizminister und dem Verkehrsminister Volker Wissing angeboten hat, weiter Teil des Kabinetts zu bleiben. In seiner heutigen Erklärung hat Verkehrsminister Wissing so etwas angedeutet.
Gegen 20 Uhr ist also klar, dass die Ampel nicht mehr weitermachen kann. Das Bundeskanzleramt lädt die Hauptstadtpresse zu einem Statement des Bundeskanzlers im Kanzleramt ein. Darin kommt die "Scheidungsrede" zum Einsatz. Die "Wir bleiben zusammen"-Rede wird das Licht der Welt nicht mehr erblicken.