Wahlkampf in Berlin Kurz und kalt
Typische Berlin-Themen haben den Kurz-Wahlkampf in der Hauptstadt geprägt. Vor allem in der Verkehrspolitik wurde mit harten Bandagen gestritten - wetterbedingt auch in warmer Unterwäsche.
Wo kommt denn all die Harmonie auf einmal her? Es ist Wahlkampf in Berlin, schon wieder, und diesmal ist er kürzer, winterlicher, spannender als 2021. Nach kaum mehr als einem Jahr Regierungszeit steht schon wieder so viel auf dem Spiel, winkt den einen eine zweite Chance, droht den anderen der frühe Fall. Von Bühnen und in Kameras lächeln, in Thermounterwäsche Flyer verteilen: Hier geht es um was.
Aber dann war da dieser Dienstag, nur Tage vor der Wahl, und auf einmal machte Berlins rot-grün-rote Regierung den Eindruck, als wäre jetzt genug gekämpft. Als ginge es höchstens noch darum, die Opposition auf Abstand zu halten.
Demonstrative Geschlossenheit
An diesem Dienstagmittag beschloss die Koalition ihren auf viele Monate angelegten Plan, die in Teilen dysfunktionale Berliner Verwaltung zu reformieren. SPD, Grüne und Linke hatten darüber gerade noch gestritten, nun gab es immerhin eine Absichtserklärung aus wenig überraschenden Eckpunkten. Präsentiert wurde sie selbstbewusst und in demonstrativer Geschlossenheit. Das ist Wahlkampf, auch gegen die FDP von Sebastian Czaja, deren radikaler Gegenvorschlag die Abschaffung sämtlicher Bezirksämter vorsieht.
Am Dienstagabend folgte dann das letzte große öffentliche Kräftemessen: der Kandidatencheck im rbb-Fernsehen. Die Themen sind bekannt, die Argumente hundertmal ausgetauscht, die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten kennen sich in- und auswendig, aber auch hier: freundliche Zurückhaltung unter den Dreien aus der Koalition. Zur politischen Abgrenzung musste diesmal die Opposition herhalten.
Dabei ging es in der Diskussionsrunde um genau die Themen, die Berlins Regierung gerade eben noch gespalten haben. Mitten im Kurzwahlkampf ließ die grüne Spitzenkandidatin und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch 500 Meter der Friedrichstraße in Berlins Mitte für Autos sperren und machte sie damit erneut zum Symbol ihrer Verkehrspolitik der Umverteilung - ohne das mit SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey abzusprechen.
Die wiederum brüskierte ihre Koalitionspartner in schöner Regelmäßigkeit mit ihrer Haltung zum Volksentscheid über die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Giffey will nicht enteignen, und das sagte sie zuletzt immer offensiver. Grüne und Linke warfen ihr Missachtung des demokratischen Willens der Abstimmenden vor. Diese Koalition kann streiten. Auf den letzten Metern aber stellte sie die gemeinsamen Errungenschaften in den Fokus.
Die Wahl als unverhoffte Chance
Auf der Gegenseite arbeiteten sich Berlins große Oppositionsparteien ebenfalls weniger aneinander ab als am regierenden Senat. "Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten", plakatierte die CDU. FDP und AfD könnten das genauso drucken. Mehr noch als das Auto prägte den Oppositionswahlkampf diesmal aber ein Wort aus drei Buchstaben: "neu".
Neubeginn, Neustart, neuer Versuch. Es ist die Inszenierung der Wiederholungswahl als unverhoffte Chance, einen Fehler zu korrigieren: den Fehler der Wahlberechtigten, diesem Senat vor kaum eineinhalb Jahren zur Mehrheit verholfen zu haben. Vor allem CDU und FDP bedienen diese Erzählung, die AfD weiß, dass sie ohnehin keine Regierungsperspektive hat.
Bemerkenswert ist, wie wenig AfD-Spitzenfrau Kristin Brinker im Wahlkampffinale noch als Radikalopposition auftritt. In ihrer Partei, auch in ihrem Landesverband gehört Brinker zu den Ruhigen, Gemäßigteren. Sie zeigte auch in der letzten TV-Debatte der Wahlwoche wenig Kante. Neben ihr verblasste CDU-Mann Kai Wegner als innenpolitischer Hardliner kein bisschen, noch nicht einmal beim Thema Silvester.
Nach Silvester legte die CDU zu
Überhaupt, Silvester. Wären die Silvesterkrawalle nicht gewesen, die prägenden Themen vor der Wahl wären praktisch dieselben wie 2021. Stattdessen stellte der Jahreswechsel den Wahlkampf einmal vom Kopf auf die Füße. Welche Rolle spielte die angenommene geografische Herkunft der Eltern und Großeltern junger Männer, die mit Feuerlöschern und Raketen Rettungswagen angriffen?
Vor allem Giffey und Wegner wussten die Aufregung zu nutzen. Die Regierende Bürgermeisterin berief in kürzester Zeit einen Gipfel gegen Jugendgewalt ein, um in einem breiten Bündnis deren Ursachen zu besprechen. Noch ist unklar, was daraus auf lange Sicht wird, aber der Auftakt ist gelungen und hat Giffey viel Lob eingebracht. Das war nicht in erster Linie Wahlkampf, aber auch aus dieser Perspektive klug.
Es war nicht Wegners Idee, nach den Ausschreitungen die Vornamen der Täter mit deutscher Staatsangehörigkeit zu erfragen, aber er verteidigte seine CDU für diesen viel kritisierten Schritt. Menschen und ihre Taten danach beurteilen zu wollen, wie deutsch ihr Vorname klingt, dieser Eindruck hat SPD und vor allem Grüne demonstrativ auf Distanz gehen lassen. Wer so handle, habe die Stadt nicht verstanden, sagte die Grüne Jarasch. In den Umfragen legte Wegners CDU nach Silvester zu, anders als die AfD.
Möglicherweise konnte CDU-Spitzenmann Wegner durch diese Art Wahlkampf zweierlei erreichen: Seine Partei könnte in Berlin zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren wieder stärkste Kraft werden - und in der linksgrünen Hauptstadt trotzdem niemanden zum Regieren finden.
Aber selbst wenn der alte Senat auch der neue Senat sein sollte, ob unter Führung von Franziska Giffey oder Bettina Jarasch: Dieser besondere Wahlkampf, den noch vor Monaten niemand so recht auf dem Zettel hatte, hat die politischen Verhältnisse in der Hauptstadt schon jetzt verändert. Und er hat dem sichtlich abgekämpften politischen Spitzenpersonal ebenso viel abverlangt wie den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Die Erholungsphase danach dürften sie dann besonders zu schätzen wissen. In gut drei Jahren geht es schon wieder los. Dann ohne Thermounterwäsche.