Sahra Wagenknecht
analyse

Ein Jahr BSW Mehr als eine Eine-Frau-Partei?

Stand: 23.10.2024 19:27 Uhr

Seit Oktober 2023 ist klar: Wagenknecht und die Linke gehen getrennte Wege. Vier Wahlen später blickt das BSW auf eine Erfolgsserie zurück. Das hängt mit der Popularität der Namensgeberin zusammen. Aber nicht nur damit.

Eine Analyse von Mario Kubina, ARD Berlin

Sahra Wagenknecht wirkte angespannt an diesem Oktobertag vor genau einem Jahr. Hinter der Bundestagsabgeordneten und ihrer bisherigen Partei lagen quälende Monate eines Trennungsprozesses. Nun aber besiegelte die Politikerin den Bruch mit der Linken. Zugleich gab sie die Gründung eines Vereins bekannt. Mit dem Ziel, eine neue Partei zu gründen: das Bündnis Sahra Wagenknecht.

"Wir leben in einer Zeit weltpolitischer Krisen", sagte die Bundestagsabgeordnete damals in der Bundespressekonferenz. Es gebe immer mehr Kriege - mit großem Eskalationspotenzial, so Wagenknecht. "Und ausgerechnet in dieser Zeit hat die Bundesrepublik die wohl schlechteste Regierung ihrer Geschichte."

Wagenknecht will der AfD Wähler abspenstig machen

Die Neugründung als historische Mission: Das ist der Anspruch, der schon bei diesem ersten BSW-Auftritt erkennbar wurde. Mit auf dem Podium saß unter anderen Amira Mohamed Ali, wie Wagenknecht bis dato bei der Linken: "Wir wollen nicht tatenlos zusehen, dass immer mehr Menschen sich enttäuscht von der Demokratie abwenden." Wagenknecht ergänzte, das BSW solle auch eine "seriöse Adresse" für diejenigen sein, die sonst AfD wählen würden. Christian Leye, der jetzige BSW-Geschäftsführer, gab die Losung aus: "Wir sind gekommen, um zu bleiben."

Wie das gelingen soll? Erstens mit einer linken Sozial- und Wirtschaftspolitik. Im BSW-Programm finden sich dazu Forderungen wie die, "Lohndrückerei" zu verhindern und die Tarifbindung zu stärken. Zweitens verlangt das BSW ein Ende der Waffenlieferungen für die angegriffene Ukraine sowie mehr Einsatz für Friedensverhandlungen. Drittens will die neue Partei ungeregelte Einwanderung stoppen. Eine Mischung aus linken und konservativen Positionen in einem Programm: Das ist neu im Parteiensystem der Bundesrepublik.

Parteienforscher: Wagenknecht-Partei schließt Lücke

"Grundsätzlich trifft das erstmal einen Nerv", stellt der Parteienforscher Constantin Wurthmann im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio fest. Die Menschen in Deutschland seien im Schnitt eben wirtschafts- und sozialpolitisch "ein bisschen linker orientiert", aber in gesellschaftspolitischer Hinsicht "ein bisschen konservativer". Insofern schließe das BSW tatsächlich eine "inhaltliche Lücke", so der Wissenschaftler vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.

Darin dürfte ein Grund für die Wahlerfolge liegen, die das BSW inzwischen eingefahren hat. Bei der Europawahl im Juni schaffte es die Wagenknecht-Partei aus dem Stand bundesweit auf mehr als sechs Prozent der Stimmen. Im Herbst dann erzielte das BSW zweistellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Zudem kommt der neuen Partei in allen drei Ländern eine Schlüsselrolle bei der Suche nach einer Regierungsmehrheit zu.

BSW jagt der Linken viele Stimmen ab

Allerdings hat auch die AfD bei den zurückliegenden Landtagswahlen gut abgeschnitten, wurde in Thüringen sogar stärkste Kraft. Bisherige Umfragen deuten darauf hin, dass das BSW eher im Stimmenreservoir von Linken, SPD oder Union fischt.

Demgegenüber steht eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap zur Brandenburg-Wahl. Demnach haben fast ein Drittel der BSW-Wähler angegeben, sie würden sich ohne BSW auf dem Wahlzettel zurzeit für die AfD entscheiden. Ob Wagenknecht also ihr Ziel erreicht, der AfD im großen Stil Wähler abspenstig zu machen: Das ist einstweilen eine offene Frage.

Persönlichkeitsfaktor wichtig

Fest steht: Der Persönlichkeitsfaktor spielt für BSW-Wähler eine große Rolle. Bei der Europawahl gaben fast 80 Prozent von ihnen an, ohne Wagenknecht würden sie die neue Partei nicht unterstützen. Das ist wenig überraschend, schließlich ist das BSW ganz auf seine Namensgeberin zugeschnitten. Was sich beispielsweise im Merchandising der neuen Partei zeigt. Ob Taschen, Tassen oder Shirts: Das alles ist jeweils mit Wagenknecht-Konterfei online erhältlich.

Politisch relevanter als Fanartikel sind allerdings die innerparteilichen Strukturen. Wie das BSW auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios mitteilt, hat die Partei zurzeit 922 Mitglieder. Es gibt einen Bundesvorstand mit Wagenknecht und Mohamed Ali an der Spitze. Mittlerweile haben sich zwölf Landesverbände gegründet, zuletzt in Baden-Württemberg.

Hartes Ringen um Regierungsbeteiligungen

Im Rampenlicht stehen zurzeit die Landesverbände in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Gerade der Erfurter BSW-Spitze um Katja Wolf wird nachgesagt, auf eine Regierungsbeteiligung hinzuarbeiten. Knackpunkt ist die Frage, ob und in welcher Form die BSW-Forderungen in der Frage von Krieg und Frieden in einen Koalitionsvertrag einfließen.

Wagenknecht sah sich am Wochenende veranlasst zu intervenieren. In der ARD-Sendung Bericht aus Berlin stellte sie klar, einige Dinge seien "noch nicht erreicht worden, die für uns im Wahlkampf sehr, sehr wichtig waren". Mehr noch: Die BSW-Chefin kritisierte den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der sich im Bundestag dafür ausgesprochen hatte, der Ukraine im Zweifel Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Von solchen Positionen müssten sich Landesregierungen, an denen das BSW beteiligt wäre, "deutlich absetzen", so die Parteichefin. Der Vorgang zeigt, dass Wagenknecht die Kontrolle behalten will - auch über die Entwicklung in den Bundesländern.

So werden neun Monate nach der Gründung erste Risse im BSW erkennbar. Wagenknecht hat ein Interesse daran, mit unverfälschtem Markenkern in die kommende Bundestagswahl zu ziehen - Regierungsbeteiligungen auf Landesebene könnten dieses Ziel gefährden. Wolf scheint dieses Risiko nicht zu scheuen. Hinter den Kulissen wird offenbar hart gerungen. Ausgang: offen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell am 19. Oktober 2024 um 10:04 Uhr.