Kaum Führungskräfte Generationenwechsel geht an Ostdeutschen vorbei
In nahezu allen Bereichen gibt es kaum Ostdeutsche an der Spitze. Ein neuer "Elitenmonitor" des Bundes zeigt: Gelegenheiten, das zu ändern, hätte es genug gegeben. Nun brauche es viele kleine Schritte.
Sie sind Konzernchefs, Richterinnen und Generäle, leiten Parteien, Behörden und Verlage: Wissenschaftler zählen einige Tausend Menschen zur Elite Deutschlands. Und die ist auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung überproportional westdeutsch. Das ist das Ergebnis des "Elitenmonitors", den der Ostbeauftragte des Bundes, Carsten Schneider, am Mittwoch gemeinsam mit Studienautoren vorstellte.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Leipzig und Jena sowie der Hochschule Zittau/Görlitz haben über vier Jahre hinweg rund 3.000 Spitzenpositionen in Deutschland nach der Herkunft ihrer Inhaber ausgewertet. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2022 und sind aus Sicht des Bundes wenig zufriedenstellend.
Justiz und Wirtschaft besonders schlecht
So beträgt der Anteil gebürtiger Ostdeutscher an der Gesamtbevölkerung - wenn man Berlin als Geburtsort einrechnet - rund 20 Prozent, in den Eliten aber nur 12,2 Prozent. Am höchsten ist der Wert noch in der Politik, wo es 20,9 Prozent sind. Doch schon im Bereich Verwaltung finden sich nur 14 Prozent Ostdeutsche in Spitzenpositionen. In den Medien sind es sogar jeweils nur rund acht Prozent, in der Wissenschaft 4,3 Prozent.
"Frappierend" nannte Schneider den Wert für die Justiz: Er betrug 2,1 Prozent. Zwar hat sich das seit 2018 verbessert - ebenso in der Verwaltung oder den Religionsgemeinschaften - in anderen Bereichen ging der Anteil der Ostdeutschen aber sogar zurück. Der Sprecher des Forschungsverbundes, Lars Vogel, warnte allerdings, dass sich aus nur zwei Jahreswerten noch kein Trend in die eine oder andere Richtung ablesen lasse.
Chance für Veränderung war da
Die Erkenntnisse kommen wenig überraschend. Der Befund sei seit den 1990er-Jahren bekannt, räumte Vogel ein. Neu ist, dass gezeigt wird, welche Chance in den letzten Jahren vertan wurde. Denn zwischen 2018 und 2022 wurde mehr als die Hälfte aller Spitzenpositionen neu besetzt. Vogel spricht von einer "erheblichen Fluktuation".
Doch in die Positionen, die Westdeutsche verließen, rückten nur in acht Prozent der Fälle Ostdeutsche. Im Gegensatz dazu übernahmen Westdeutsche zu 54 Prozent die Stellen von Ostdeutschen. Das ist insofern bemerkenswert, als dass 2018 längst eine gesellschaftliche Debatte über die Repräsentation von Ostdeutschen begonnen hatte.
Ostbeauftragter auf "Tippel-Tappel-Tour"
Verantwortung dafür trägt auch der Bund selbst, der viele Stellen besetzt. Der Ostbeauftragte Schneider sagte, bis zum Regierungswechsel 2021 habe es maximal bei Ministern eine Rolle gespielt, wo sie herkommen. Lange habe es fälschlicherweise geheißen, "das wächst sich von allein aus". Er wolle sich aber "nicht wegducken", so Schneider, der selbst in Erfurt aufgewachsen ist. Deshalb habe die Bundesregierung Anfang des Jahres erstmals ein eigenes Konzept für Ostdeutsche in Führungspositionen beschlossen, zu dem auch der "Elitenmonitor" gehört.
Schneider wiederum rede mit Personalvorständen von DAX-Unternehmen. Seit zwei Jahren sei er auch auf "Tippel-Tappel-Tour durch die Ressorts" der Bundesregierung, auf einer Tour der kleinen Schritte also. Besonders viele davon bräuchte es offenbar im Verteidigungsministerium: Das Militär hat bislang genau null ostdeutsche Führungskräfte.
Sorge um Demokratie
Dass die Bundesregierung überhaupt einen solchen Aufwand betreibt, hat zwei Gründe. Zum einen sieht das Grundgesetz gleichwertige Lebensverhältnisse für ganz Deutschland vor. Zum anderen sinkt die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie - und das im Osten besonders stark. Laut einer Erhebung des Bundes waren vor einem Jahr nur 59 Prozent aller Westdeutschen und 39 Prozent aller Ostdeutschen zufrieden.
Die politische Stimmung - da sind sich Schneider und die Wissenschaftler einig - sei zum Teil auch auf die Unterrepräsentation zurückzuführen. Dabei gibt es für diese gleich eine Reihe an Ursachen, die die Forscher durch Befragungen ermittelt haben.
Verantwortung auf beiden Seiten
Co-Autorin Astrid Lorenz erinnerte daran, dass Westdeutsche nach der Wende viele Führungspositionen im Osten übernommen und diese aufgrund ihres jungen Alters lange gehalten haben. Auch neigten westdeutsche Eliten wie alle Eliten dazu, ihresgleichen als Nachfolger zu rekrutieren. Da die Elite vor allem älter als 50 sei, spielten bei den Ostdeutschen auch fehlende Fremdsprachenkenntnisse, genauer: fehlende Englisch-Kenntnisse, und in manchen Bereichen nicht als gleichwertig angesehene DDR-Abschlüsse eine Rolle.
Lorenz sah auch eine Verantwortung bei den Ostdeutschen selbst. "Es war ein gewünschter Elitenwechsel", sagt Lorenz über die Wende. Die Menschen in der DDR hätten sich von ihrem System befreien wollen. Auch seien Ostdeutsche als Teil der eigenen Landespolitik selbst für viele Karrierewege - etwa in der Wissenschaft - verantwortlich gewesen.
Förderung statt Ost-Quote
Lorenz’ Handlungsempfehlungen richteten sich allerdings vor allem auf jüngere Generationen: So sollten heutige ostdeutsche Studierende gezielter gefördert werden. Auch müsse man sie ermuntern, sich öfter selbst um Stipendien zu bewerben. Lorenz sagte auch mit Blick auf die jüngsten Ansiedlungserfolge in Ostdeutschland: "Es reicht nicht nur Unternehmen und Behörden im Osten anzusiedeln, sondern es braucht auch die Sensibilität bei der Personalbesetzung."
Der Sprecher des Forschungsverbundes Vogel sagte, es werde weitere "Gelegenheitsfenster" geben, damit sich Eliten veränderten. Dies könne etwa gelingen, wenn sich Ostdeutsche stärker als bislang in Parteien, Kirchen und Gewerkschaften engagieren würden. Ohnehin müsse der Blick weg von Defiziten hin zu Diversität gelenkt werden, so der Politikwissenschaftler. Ostdeutsche seien schließlich nicht die einzige unterrepräsentierte Gruppe.
Positive Entwicklung im Verwaltungsmittelbau
Das müsse jetzt von "von unten heraus hochwachsen", kommentierte der Ostbeauftragte Schneider. Er wolle "fördern und fordern". Bereits im Januar hatte Schneider gesagt, dass Auswahlgremien auf Bundesebenen künftig vielfältiger besetzt werden sollen.
Mut mache ihm die Situation in der Verwaltung. Schon heute, im Jahr 2023, seien 23,6 Prozent aller Referenten und Referentinnen dort ostdeutscher Herkunft. Eine verpflichtende Ost-Quote lehnt Schneider hingegen weiterhin ab. Eine solche fordert seit Jahren die Linksfraktion. Im Bund und Bundestag gilt es aber als fraglich, dass sie rechtssicher gestaltet werden könnte.
Unternehmer: Nicht "von oben" aufsetzen
Mit Blick auf die schwachen Zahlen in der Justiz appellierte Unionsfraktionsvize Sepp Müller am Mittwoch an Bundestag und Bundesrat. "Bei der kommenden Neubesetzung am Bundesverfassungsgericht sollte der Osten in jedem Fall berücksichtigt werden", so Müller. Beide Organe wählen je zur Hälfte die Posten. Müller forderte zudem Ostdeutsche dazu auf, sich besser zu vernetzen.
In der Wirtschaft wiederum glaubt man nicht an einfache Lösungen. Lars Schaller, Geschäftsführer des Unternehmerverbands Sachsen, begrüßte zwar gegenüber tagesschau.de die Initiative des Bundes. Es sei wichtig, dass der Diskurs weitergeführt werde. Allerdings müsse es "eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema werden".
Die Frage nach konkreten Maßnahmen sei allerdings "nicht so einfach zu beantworten", so Schaller. Würden sie von "von oben" aufgesetzt, würden sie jedenfalls keine langfristige Veränderung bringen.