Ricarda Lang (r) und Omid Nouripour
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Vorstand der Grünen Warum sich Lang und Nouripour zurückziehen

Stand: 25.09.2024 15:21 Uhr

Selbst für viele führende Grünen-Mitglieder kam die Entscheidung überraschend: Die Parteispitze tritt geschlossen ab. Was steckt hinter dem Schritt und wie kommt der Rückzug an? Ein Überblick.

Bei den Grünen tritt der komplette Parteivorstand zurück. Ein Neustart soll helfen, die Partei aus der Krise zu holen. Warum legt der Bundesvorstand mit seinen Co-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang jetzt eine solche Vollbremsung hin?

Ankündigung des Vorstands der Grünen nach jüngsten Wahlniederlagen

Tina Handel, ARD Berlin, tagesschau, 25.09.2024 20:00 Uhr

Wie begründeten die Parteichefs den Schritt?

Nach Verlusten bei der Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen führt Nouripour das schlechte Abschneiden der Grünen bei der Wahl in Brandenburg an - diese holten dort nur gut vier Prozent der Stimmen und flogen damit aus dem Landesparlament. Das Wahlergebnis sei "Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade", sagte er. Es sei notwendig und möglich, diese Krise zu überwinden.

Co-Chefin Lang sah einen Schritt "für die strategische Neuaufstellung" der Partei. Die Parteichefs begründen den "Neustart" dabei auch mit der Bundestagswahl im kommenden Jahr. Diese sei "nicht einfach irgendeine Wahl", betonte Lang - sondern eine Entscheidung darüber, "wie sich Deutschland in Zukunft entwickelt". Es gehe darum, ob "wir ein Land sind, in dem wir beim Klimaneutralität Kurs halten und sozialen Zusammenhalt schützen" - oder ob sich diejenigen durchsetzen, "die bei all dem nur Rückschritt wollen".

Welche Rolle spielen die jüngsten Wahlen?

Die Grünen haben bei vier Wahlen in Folge - Europawahl und Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg - ein desaströses Ergebnis eingefahren. In Thüringen und Brandenburg, wo sie an der Landesregierung beteiligt waren, scheiterten sie an der Fünf-Prozent-Hürde und flogen gleich ganz aus dem Landtag.

Vor allem, dass sie bei jungen Wählern nicht mehr so punkten können wie früher, macht ihnen Sorgen. Intern ist die Rede von einer mangelnden Präsenz auf Tiktok. Auch habe man wohl zu spät erkannt, wie sehr viele Jugendliche unter den Beschränkungen der Corona-Pandemie gelitten haben.

Zwei weitere mögliche Gründe sehen manche Mitglieder, über die aber nicht öffentlich gesprochen wird. Zum einen ist da die Haltung der Partei zum Krieg im Gazastreifen nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober, die unter anderem manche eher links eingestellte Wähler aus dem studentischen Milieu zu einseitig pro-Israel finden. Und auch die Verschärfungen im Asylrecht seien teils nicht gut angekommen, heißt es.

Was hat die nächste Bundestagswahl damit zu tun?

In einem Jahr ist Bundestagswahl. Wahrscheinlich stellen die Grünen einen Kanzlerkandidaten auf und wahrscheinlich heißt er Robert Habeck. In bundesweiten Umfragen erreichten die Grünen zuletzt allerdings Werte, die deutlich unter ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl von 2021 lag.

Damals hatten die Grünen mit ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock 14,8 Prozent geholt. Die Partei hatte sich mehr erhofft.

Wer tritt zurück?

Der gesamte Bundesvorstand legt sein Amt nieder. Dem Vorstand gehörten bislang neben Lang und Nouripour noch die stellvertretenden Parteivorsitzenden Pegah Edalatian und Heiko Knopf, Geschäftsführerin Emily Büning und Bundesschatzmeister Frederic Carpenter an.

Alle hatten ihre Ämter Anfang 2022 übernommen. Lang und Nouripour übernahmen dabei den Parteivorsitz von Annalena Baerbock und Robert Habeck, die in die Bundesregierung wechselten.

In welcher Situation hatten sie die Partei übernommen?

Als Lang und Nouripour Ende Januar 2022 als neue Vorsitzende der Grünen gewählt wurden, sah die Welt nicht nur für die Partei noch anders aus. Russland hatte seinen großangelegten Angriff auf die Ukraine noch nicht gestartet, der Umgang mit Corona war noch eines der dominierenden Themen. Die Grünen lagen in Umfragen wie dem ARD-DeutschlandTrend bei 16 Prozent. 46 Prozent waren mit der damals noch recht neuen Ampelkoalition zufrieden oder sehr zufrieden.

In der Partei gelten Lang und Nouripour als relativ beliebt. Im November 2023 waren sie im Amt bestätigt worden. Die Umfragewerte für die Grünen gingen jedoch nach unten. Aktuell liegt die Partei bei elf Prozent. Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung insgesamt ist auf dem Tiefstand. Kernthemen der Grünen haben in der Öffentlichkeit an Aufmerksamkeit eingebüßt.

Wie geht es nun weiter?

Lang und Nouripour führen die Partei noch knapp sieben Wochen - bis zum nächsten Grünen-Parteitag, der vom 15. bis 17. November in Wiesbaden stattfindet. Dort wird dann ein neuer Vorstand gewählt.

Wer wird für die Nachfolge gehandelt?

Für eine mögliche Nachfolge kursierten schon kurz nach dem Rücktritt erste Namen. Genannt wurden die dem Realo-Flügel angehörige Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium von Habeck, und der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak. Letzterer war früher Vorsitzender der Grünen in Nordrhein-Westfalen und wird dem linken Parteiflügel zugerechnet.

Ebenfalls ins Spiel gebracht wurden der frühere hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und der Vizechef der Bundestagsfraktion, Andreas Audretsch.

Was bedeutet das für die Bundesregierung?

Schon das schlechte Abschneiden bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen Anfang September hatte für Schockwellen innerhalb der Ampelkoalition gesorgt. Dazu kam noch die Brandenburger Wahl, die für die Grünen das Landtags-Aus und für die FDP erneut den verpassten Einzug in das Parlament bedeutete.

Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat dramatisch an Beliebtheit eingebüßt. Lang und Nouripour hatten sich trotzdem entschieden, es anders zu machen als die FDP. Deren Generalsekretär Bijan Djir-Sarai geht oft auf Distanz zu Entscheidungen der Koalition und klingt inzwischen häufig eher wie ein Oppositionspolitiker als wie ein Vertreter einer Regierungspartei.

Lang und Nouripour verwiesen eher auf das, was die Grünen als Erfolge der Ampelkoalition sehen, etwa beim Ausbau der Erneuerbaren Energien - und taten sich schwer, ihre Partei von der unpopulären Koalition abzugrenzen.

Aus Sicht der Liberalen steht die Koalition bereits auf der Kippe. Bis zur parlamentarischen Weihnachtspause am 21. Dezember fordert die FDP konkrete Ergebnisse der Koalition in der Wirtschafts- und Migrationspolitik. Vor allem bei Letzterer lagen aber FDP und Grüne häufig über Kreuz. Eine neue Grünen-Spitze muss hier einen für die Partei gangbaren Weg finden. Ein baldiges Ende der Koalition prophezeit bereits die Union und fordert Neuwahlen.

Was sagt Kanzler Olaf Scholz?

"Das hat keinerlei Auswirkungen auf die Koalition", sagte Kanzler-Sprecher Steffen Hebestreit in einer ersten Reaktion. Lang und Nouripour seien schließlich bis zur Klärung ihrer Nachfolge auf dem Parteitag Mitte November weiter im Amt. Damit sei keine personelle Lücke oder ein Machtvakuum zu befürchten.

Mit Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und AFP

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 25. September 2024 um 14:00 Uhr.