Scholz' 100-Tage-Bilanz Der Zauderer geht plötzlich voran
In den ersten Wochen im Amt prägten noch Zögern und Zaudern die Arbeit des Kanzlers. Dann begann Russland einen Krieg in Europa. Und Scholz fand auf einmal einen anderen Ton.
Es war Sonntag, 27. Februar, 11.07 Uhr, als aus Olaf Scholz, dem Merkel-Nachfolger, der Bundeskanzler Olaf Scholz wurde. In den drei Tagen seit Kriegsbeginn wandelte sich der 63-Jährige vom schweigsamen Zauder-Lehrling zum Kanzler in Kriegszeiten.
Der Bundestag erlebte in dieser Sondersitzung Ende Februar nicht nur die Regierungserklärung von Scholz, sondern die Neuerfindung eines Mannes, der spät, aber noch rechtzeitig beschlossen hatte, führen zu wollen. Der Angriffskrieg Russlands als Zeitenwende, nach der die Welt, so sagt es der Kanzler, eine andere sein würde. An nur einem Wochenende erfand Scholz die Sicherheits- und Außenpolitik Deutschlands neu, verwandelte zu Gewissheit geronnene Wahrheiten in Irrtümer der bundesdeutschen Geschichte.
"Wenn man ein solches Amt hat, gibt es nur ein Ziel. Es richtig zu machen", sagt Scholz, als er von Kinderreportern nach seiner Angst gefragt wird, Fehler zu machen. Den Fehler, ein von Ereignissen und öffentlicher Meinung Getriebener zu werden, hat er jedenfalls vermieden.
"Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie"
Im kleinsten Kreis entschied Scholz, was vor ihm kein Kanzler in den ersten 100 Tagen einer Amtszeit entscheiden musste. Waffen liefern, Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aus - und aufrüsten. Einen Weltkrieg verhindern. Nicht mehr, nicht weniger. Nicht einmal die eigene Fraktion weihte Scholz vor seiner Rede ein, wohl aus Angst, dass zerredet würde, was an Entschlossenheit notwendig ist. Der Fraktionschef Rolf Mützenich saß mit versteinertem Gesicht im Saal, als Scholz ankündigte, fortan das Zwei-Prozent-Ziel der NATO für Rüstungsausgaben eines jeden Mitgliedslandes übererfüllen zu wollen.
"Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie", hatte Scholz einst verkündet. Spätestens in diesen Minuten, als Scholz die Zeitenwende per Regierungserklärung nachvollzog, ahnten viele Sozialdemokraten, was der Kanzler damals gemeint hat.
Einen Weltkrieg verhindern
"Mehr Fortschritt wagen" hatten sie sich mutig als Motto über den Koalitionsvertrag geschrieben. Jetzt aber wagt der Kanzler in Kriegszeiten den Bruch mit vielem, was vor allem seine eigene Partei als Friedenspartei stets ablehnte. Bewaffnete Drohnen. Atomwaffentragende teure amerikanische Kampfjets, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet. "Eigentlich dachten wir, mit der Abarbeitung des Koalitionsvertrages, mit Corona und der Klimaschutzwende genug Aufgaben für die nächsten vier Jahre zu haben", sagt SPD-Chef Lars Klingbeil. Einen Weltkrieg verhindern stand nirgendwo als Aufgabe formuliert.
"Das verfolgt einen bis in den Schlaf", sagt Scholz, der anders als Vizekanzler Robert Habeck aber öffentlich in keiner Sekunde Zweifel erkennen lässt, an dem, was er tut. Sollte er sie haben, verschwinden sie spätestens seit Beginn des Ukrainekrieges hinter der Fassade des unerschütterlichen Olaf Scholz, der in Potsdam bei seinem Antrittsbesuch beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr den Dreiklang seines Regierungsstils formulierte: "Es ist wichtig kühlen Kopf zu bewahren, klar und entschlossen zu sein und vorsichtig zu bleiben."
Lange schien nur der letzte Punkt, die Vorsicht, die ersten 100 Tage im Kanzleramt zu dominieren. Selten war der Kanzler klar und entschlossen. Der Unmut der Medien wuchs, weil Scholz jede Frage mit stets den gleichen umständlichen Satzbausteinen aus dem politischen Wörterbuch der Stanzen beantwortete.
Kanzler im Wollpulli
In einer eskalierenden Ukraine-Krise brauchte es Wochen, bevor Scholz das Wort Nord Stream 2 überhaupt in den Mund nahm. Bis hin zur Trotzigkeit verweigerte Scholz auszusprechen, was im East Room des Weißen Hauses der amerikanische Präsident neben ihm stehend sagt. "Greift Putin an, ist Nord Stream 2 Geschichte." Spätestens aber, als Verbündete und eigene Parteifreunde beschämt die Köpfe schüttelten, weil die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht der bedrohten Ukraine Solidarität in Form von 5000 Helmen schickte, setzte im Kanzleramt offenbar ein Umdenken ein.
Seit Dezember, so erzählen es jetzt Vizekanzler Habeck und Finanzminister Christian Lindner, habe man sich auf das Worst-Case-Szenario, einen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorbereitet. Öffentlich zögert und zaudert der Kanzler. Wer ihn aber am Rande von Kanzlerreisen beobachtet, erlebt weiter jenes Selbstbewusstsein, das er schon als Vizekanzler entwickelt hatte. Im Regierungsflugzeug steht dieser Scholz auf dem Weg nach Washington im Wollpulli irgendwo hoch oben über Großbritannien im Gang und erklärt den Mitreisenden die Weltlage. Und kaum ein Satz endet mit einem Fragezeichen.
"Ich bin der Kanzler, der die Linien bestimmt"
Wer einst - zum Amtsende von Kanzlerin Merkel, die 16 lange Jahre Krise um Krise abarbeiten musste - skeptisch auf den Nachfolger schaute, erlebt einen Mann, der in der Krise zu wachsen scheint. Er reiste nach Moskau, trotzte Wladimir Putin, telefoniert seit Tagen immer wieder mit dem Mann, den er jetzt einen Kriegstreiber nennt. Rückt enger mit Emmanuel Macron zusammen, als Merkel es je war.
Er trifft Joe Biden in Washington und erklärt auf Englisch im amerikanischen Sender CNN, was einen gewesenen Kanzler und Lobbyisten Gerhard Schröder von einem verantwortlichen Kanzler Scholz unterscheidet: "Er spricht nicht für die Regierung, arbeitet nicht für die Regierung. Er ist nicht die Regierung. Ich bin der Kanzler, der die Linien bestimmt", sagt Scholz über Schröder, der auch im Kanzleramt nur noch als Peinlichkeit aus Hannover wahrgenommen wird.
Applaus von der Ministerin
Zurück zu jenem Sonntag, dem 27. Februar, als sich die Welt, wie wir sie kannten, mit der Regierungserklärung auch für Deutschland änderte. Schon der Tonfall von Olaf Scholz war ein anderer. Noch in seiner ersten Regierungserklärung im Dezember als frisch vereidigter Bundeskanzler las er leise ab, verlor dabei Emotion und Klarheit und klang so mutlos, obschon er und die Ampel doch mehr Fortschritt wagen wollten.
An jenem Sonntag aber sprach ein Kanzler, der Satz für Satz Saal und Menschen erreichte. Verteidigungsministerin Lambrecht vergaß irgendwann vor lauter Begeisterung, dass Ministerinnen auf der Regierungsbank nicht applaudieren dürfen. Sie klatschte Beifall wie fast der gesamte Saal, der im Angesicht einer unfassbaren Tragödie in der Ukraine erleichtert schien, dass der Kanzler jetzt endlich vorangeht.