Vor der Landtagswahl Ungleiches Thüringen
Reiche Städte, armes Land: Der Ruf nach gleichwertigen Verhältnissen ist auch im Thüringer Wahlkampf zu hören. Dabei sind die Unterschiede gar nicht so eindeutig. Eine Zahl bleibt aber besorgniserregend.
Das Stadt-Land-Verhältnis "ist fraglos eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit", sagt Thüringens Ministerpräsident und Linken-Politiker Bodo Ramelow 2023 im Landtag. Bei Facebook schreibt der Thüringer CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt: "Mir ist wichtig, dass in Thüringen keiner abgehängt wird." Und Katja Wolf vom Thüringer Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sagt dem Tagesspiegel: "Der ländliche Raum darf nicht weiter benachteiligt sein."
Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land: Darauf können sich zurzeit fast alle einigen. Die Bundesregierung hat gerade erst einen ausführlichen Gleichwertigkeitsbericht erstellt. Und der Thüringer Landtag hat im April in die Landesverfassung das Ziel geschrieben, "gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Landesteilen" zu sichern.
Man muss dazu sagen: Thüringen ist insgesamt ein ländlich geprägtes Bundesland. Es gibt keine Metropolen. Und doch hört man immer wieder, die Politik würde sich nur um die "Städtekette" kümmern, von Eisenach bis Gera entlang der Autobahn 4, mit den Universitätsstädten Erfurt, Weimar und Jena in der Mitte.
Niedrige Löhne in Thüringen
"Gleichwertige Lebensverhältnisse" - das ist nicht einfach zu messen. Im Internet mangelt es nicht an bunten Karten, die die Verhältnisse in Deutschland vergleichen sollen. In den meisten Studien zur Gleichwertigkeit kommen immer wieder drei wichtige Themen vor: Wirtschaft, Infrastruktur und Bevölkerungszusammensetzung.
Mit Blick auf die Wirtschaft ist ein Faktor besonders deutlich: die Gehälter der Arbeitnehmer vor Ort. Zugespitzt zeigt die Landkarte der Thüringer Bruttolöhne: Jena gegen den Rest. Kein Wunder, denn Jena ist das unbestrittene Technologiezentrum und hat die einzige Volluniversität Thüringens.
Doch abgesehen davon liegen viele Landkreise (zum Beispiel Saalfeld-Rudolstadt) gleichauf mit Städten wie Gera. Viel aussagekräftiger ist ein Blick auf die Deutschlandkarte. Hier zeigt sich nach wie vor eine scharfe Grenze zwischen Ost und West. Und das zeigt einmal mehr: Thüringen ist ein Niedriglohnland, und zwar in Stadt und Land, auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung.
Wohlhabende Städte: nicht für alle
Die Landeshauptstadt Erfurt kommt im Brutto-Gehälter-Vergleich auf Platz drei, mit 3.356 Euro im Median. Es gibt hier durchaus gut bezahlte Jobs. Aber: "Wir wünschen uns, dass sich mehr wohlhabende Leute für den Berliner Platz entscheiden, mehr interne Migration innerhalb von Erfurt", sagt Angelica Ianachi. Die Sozialpädagogin arbeitet im Erfurter Norden im Stadtteiltreff "Berolina", einem bunt gestalteten, hellen Raum zwischen typischen DDR-Plattenbauten.
Die soziale Durchmischung, die sie sich wünscht, gibt es hier am Berliner Platz kaum. Ianachi berät oft Menschen, die von Niedriglohn-Jobs leben, Bürgergeld bekommen oder aufstocken. Dass eine vierköpfige Familie mit rund 2.000 Euro im Monat auskommen müsse, sei im Viertel nicht ungewöhnlich. Die Sozialpädagogin erklärt, viele fühlten sich vernachlässigt. "Die Politik ist hier schon präsent, manchmal sogar sehr oft, insbesondere vor der Wahl."
Eins ist ihr und ihren Klienten aber wichtig: Sie wollen nicht als Verlierer wahrgenommen werden. Im Stadtteilzentrum leben sie eine aktive Gemeinschaft, organisieren Sommer- und Stadtteilfeste. "Erfurt ist wunderschön und gemütlich, auch hier im Norden", betont Ianachi.
In der angrenzenden Gera-Aue ist ein Park entstanden und durch die Plattenbauten zieht sich ein begrünter Boulevard. Auch für alltägliche Dinge ist am Berliner Platz gesorgt: Die Straßenbahn fährt häufig, Ärzte und Supermärkte sind immer in der Nähe.
Langer Weg zum nächsten Arzt
Das ist auf dem Land oft anders. Um darzustellen, wie erreichbar die medizinische Versorgung ist, kann man messen, wie lange man zum nächsten Arzt braucht. Während man in Erfurt, Weimar und Jena weniger als sechs Minuten mit dem Auto fahren muss, ist man im Wartburgkreis durchschnittlich fast doppelt so lange unterwegs.
Elf Minuten Autofahrt - das klingt aushaltbar. Aber wer ohne Auto unterwegs sein muss, hat es im ländlichen Thüringen oft schwer.
Das fällt auch Adelina Krasnici auf. Sie stammt aus Heßles, einem kleinen Dorf bei Schmalkalden, wiederum einer kleinen Stadt am Rand des Thüringer Waldes. Die 24-Jährige studiert Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule in Schmalkalden.
Gemeinsam mit ihrem Freund wohnt sie im Haus der Großeltern, für beide Parteien ein Gewinn: Die Großeltern haben Gesellschaft und die Studierenden wohnen günstig.
Unattraktiv durch fehlende Anbindung
Dadurch ist sie aber auf ein Auto angewiesen. Vor dem Studium pendelte Adelina täglich mit dem Bus nach Schmalkalden. Sie musste jeden Tag eine Stunde im Nachbardorf auf den Anschluss warten.
"Früher hatten sie da wenigstens noch einen Tante-Emma-Laden, in dem ich warten konnte", sagt sie. Der sei nun auch geschlossen. Die mangelnde Mobilität sei das größte Problem, das die Region habe. Man brauche selbst mit dem Auto fast eine Stunde, bis man auf einer Autobahn sei.
Corona war der Grund, warum Adelina das Studium in Schmalkalden begonnen hat. Wegen der Pandemie ist sie dort geblieben, immerhin gab es einen Garten mit Freiraum. Nun steht aber bald der Master an, den will sie nicht in Schmalkalden machen. Sie will sich in einer großen Stadt ausprobieren. Sie blickt aber mit Sorge auf die Situation ihrer Großeltern, die dann allein sind in Heßles.
Thüringen hat ein Überalterungsproblem
Thüringens größtes Problem zeigt sich, wenn man die Personen im Rentenalter mit den Personen im erwerbstätigen Alter ins Verhältnis setzt. Der so gebildete Altenquotient gibt Aufschluss über die Demographie. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und die Zahl der Menschen im Rentenalter steigt, steigt auch der Quotient. Ein höherer Altenquotient bedeutet, dass die Region stärker auf medizinische Versorgung und wirtschaftliche Leistungen angewiesen ist.
In Suhl ist der Altenquotient besonders hoch. Hier kommen 61 Personen im Rentenalter auf 100 Personen im erwerbstätigen Alter. Und selbst in Jena liegt der Quotient bei 36. In der Zukunft wird sich der Quotient voraussichtlich nicht verbessern. Durch den Wegzug junger Leute beschleunigt sich die Überalterung der Thüringer Gesellschaft zunehmend.
Das gleiche Problem
Stadt und Land: Das ist und bleibt ein Thema in Thüringen. Die Städterinnen und Städter kommen schneller zum Arzt und haben eine bessere Nahverkehrsanbindung. In manchen Städten - vor allem in Jena - verdient man deutlich besser als im Rest des Landes.
Doch auch die Städte haben ein Überalterungsproblem, das sich in Zukunft noch verschärfen wird. Zu wenige zahlen Steuern, versorgt werden müssen in Zukunft zu viele.
Es ist ein kompliziertes Problem ohne einfache Lösungen. Hört man sich unter Expertinnen und Experten um, dann heißt es: Die Politik muss sich auf das konzentrieren, was sie direkt beeinflussen kann, allem voran: die Infrastruktur.
Bahnstrecken und Schulen, Krankenhäuser und Schwimmbäder auch im immer dünner besiedelten Thüringen: Das fordern viele Parteien im Landtagswahlkampf. Aber oft stehen dahinter mühsame und teure Einzelfallentscheidungen. Und ob die nächste Thüringer Landesregierung diese Dinge in einer stabilen Koalition mit eigener Mehrheit angehen kann - das ist noch völlig unklar.