Nach den Landtagswahlen "Im Moment orientiert sich alles an der AfD"
Es gibt Menschen, die aus Überzeugung die AfD wählen. Doch wenn die Politik nur noch auf die Themen der in Teilen rechtsextremen Partei blicke, mache sie sie nur stärker, sagt Soziologe Matthias Quent.
tagesschau24: Welche Erklärung haben Sie dafür, dass die Menschen in Sachsen und Thüringen der AfD so viele Stimmen gegeben haben? Geschieht das aus Überzeugung?
Matthias Quent: Es gibt nicht den einen Grund dafür. Das ist erst einmal die wichtigste Feststellung. Jetzt einseitig auf die Ampel, auf Friedrich Merz oder wo auch immer hinzuschauen, wird mit Sicherheit zu kurz greifen.
Die AfD hatte schon bei den vergangenen Landtagswahlen sehr hohe Ergebnisse, in Sachsen über 27 Prozent - und da gab es die Ampel noch gar nicht.
Im Hinblick auf die Frage, ob es sich um Überzeugung oder um einen diffusen Protest handelt, sind die Daten doch sehr klar, dass es sich um in einem großen Teil um eine Überzeugungswahl handelt. Und durchaus auch um eine Wahl, die aus einem ganz relevanten rechtsextremen Einstellungsmilieu heraus getroffen wurde.
Das betrifft nicht alle Wählerinnen und Wähler, aber doch eine sehr stabile Basis. Und mit dieser Basis gelingt es der Partei, in einer sich volksnah gebenden Kümmererstrategie die Krisen und Probleme unserer Zeit zu radikalisieren und damit auch ihre Strahlweite auf bisher noch nicht erreichte Milieus zu erweitern.
Matthias Quent ist Soziologe. Er ist Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und seit Februar 2022 dort affiliierter Wissenschaftler. Seit Mai 2021 ist er zudem Professor für Soziologie für die Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Polarisierung und Zusammenhalt, Klimarassismus und rechte Reaktionen gegen ökologische Transformation und gegen Klimagerechtigkeit.
AfD schürt "ständige Angst vor Untergang"
tagesschau24: Aber worauf fußt denn diese Überzeugung?
Quent: Diese Überzeugungen fußen auf einem Fremdeln mit dem, was liberale Demokratie ausmacht. Das gilt nicht nur in Ostdeutschland, das gilt auch in Westdeutschland, aber für einen kleineren Teil der Bevölkerung. Und wir sehen es ja auch international.
Das fußt auf einer ständigen Angst vor Untergang, vor Niedergang, vor Notstand, die ja auch im politischen und im öffentlichen Diskurs unterfüttert wird mit drastischem Vokabular, insbesondere im Kontext von Migration.
Die AfD und ihr vorpolitisches Feld verstärken das noch einmal, sodass es sich auch um eine emotionale Gemeinschaft handelt. Letztlich eine Gemeinschaft, die der Überzeugung ist, alles ist im Niedergang begriffen und nur die AfD könne das Land jetzt noch vor einer großen Katastrophe befreien.
Und dagegen mit rationalen Argumenten anzukommen, ist sehr, sehr schwer. Es ist eine kulturpessimistische Schwarzmalerei, die durchschlagend ist und die Menschen dann anfällig macht für radikale Botschaften und Lösungsversprechen.
"Für junge Menschen durchaus attraktiv"
tagesschau24: Und warum verfängt das vor allen Dingen auch bei jungen Menschen, die ja auch verstärkt rechts gewählt haben? Das ist doch eher untypisch für junge Menschen.
Quent: Das ist nur untypisch für die letzten Jahre, wo man insbesondere die Daten und die Bilder aus der Klimabewegung gesehen hat und der Meinung war, dass junge Menschen doch eher weltoffen, kosmopolitisch, ökologisch-liberal orientiert sind.
Aber auch, wenn man etwa nach Osteuropa schaut oder wenn man sich die 1990er- und 2000er-Jahre insbesondere in Ostdeutschland anschaut, dann muss man sagen, dass die rechtsextreme Lebenswelt für junge Menschen durchaus ihre Attraktivität hat.
Das kommt aus den Elternhäusern. Das kommt auch daraus, dass das Versprechen, das die deutsche Gesellschaft die soziale Marktwirtschaft lange getragen hat: Dir wird es mal besser gehen als deinen Eltern. Dass dieses Versprechen keine Glaubwürdigkeit hat für viele junge Menschen, die stattdessen in sozialen Medien einerseits wahrnehmen und ständig sehen, was sie alles nicht schaffen können und auf der anderen Seite der Agitation von Influencern von AfD und so weiter ausgesetzt sind, die sie direkt erreicht.
"Es gibt Regionen, in denen rechts sein normal ist"
tagesschau24: Welche Rolle spielt Social Media? Und ist es vielleicht auch ein bisschen "in" rechts zu sein?
Quent: Es gibt Milieus, in denen das "in" ist. Das darf man nicht generalisieren. Die Jugend als solche ist nicht rechts, aber ein großer Teil. Ein Drittel der jungen Menschen haben nicht nur Sympathien für die AfD, sondern auch beispielsweise ausländerfeindliche Einstellungen. Das überschneidet sich durchaus.
Und ja, es gibt Milieus und es gibt Regionen, in denen rechts sein normal ist, sogar die Hegemonie ist und sich junge Menschen, die nicht rechts sind, verstecken müssen, nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen oder auch durch Kleidung oder ähnliches nach außen zu tragen.
Da entstehen gerade in strukturschwachen Regionen regelrechte Angsträume und eine Hegemonie einer rechten Jugendnormalität, die nicht nur in den sozialen Medien stattfindet, aber dort ganz erheblich auch getrieben wird.
Sehr auffällig ist auch, dass es vor allem junge Männer sind, die sich zur AfD und auch zu rechtsradikalen Positionen hingezogen fühlen.
"Schweigende Mehrheit immer mehr zum Schweigen gebracht"
tagesschau24: Nun gibt es ja noch die anderen, die nicht AfD gewählt haben. Warum ist von Ihnen gesamtgesellschaftlich so wenig zu hören?
Quent: Das ist ein großes Problem, übrigens in der gesamten politischen Debatte. Die ostdeutschen Landtagswahlen sind ja im Bundestrend relativ bedeutungslos. So viele Wählerinnen und Wähler gibt es hier gar nicht. Trotzdem werden sie zur Schicksalsfrage vor den Bundestagswahlen erhoben.
Und eine große Mehrheit in Ostdeutschland will die AfD nicht in einer Regierung sehen. Über 60 Prozent wollen das nicht, zeigen Umfragen. Und auch weit über 60 Prozent haben nicht AfD gewählt.
Gleichzeitig gibt es eine große Verunsicherung, weil das rechte Milieu so aktiv ist, präsent und auch aggressiv ist in der Einschüchterung. Nicht nur durch Gewalt, aber auch mit Drohungen, mit der Isolation von Leuten, die sich politisch gegen rechts engagieren, die dann in manchen Regionen überhaupt keinen Rückhalt mehr spüren.
Das ist eine Situation, die tatsächlich auch die viel beschworene schweigende Mehrheit immer mehr zum Schweigen gebracht hat in den vergangenen Monaten und Jahren.
"Gemeinsamkeiten zwischen Jena und Tübingen"
tagesschau24: Entzweit sich Deutschland zunehmend, driftet Ost- und Westdeutschland weiter auseinander?
Quent: Jein. Einerseits ja: Wenn man Ost und West als Differenzierungsmerkmal nimmt, dann kann man das so pauschal sagen, dass sich die Ostdeutschen immer mehr von dem liberalen westlichen Modell entfernen.
Allerdings nein, wenn man genauer hinschaut und beispielsweise zwischen Stadt und Land unterscheidet, zwischen den besser Gebildeten und den formal weniger Gebildeten, ist das nicht so einfach. Dann gibt es größere Gemeinsamkeiten zwischen etwa der Stadt Jena und der Stadt Berlin oder Heidelberg oder Tübingen als vielleicht zwischen Jena und Sonneberg oder Hildburghausen.
Also solche Pauschalisierungen muss man mit Vorsicht beantworten. Aber es ist ganz klar, dass es nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch kulturell Unterschiede zwischen Ost und Westdeutschland gibt. Und die werden vermutlich auch nicht verschwinden.
"Eigene politische Angebote machen"
tagesschau24: Welche Prognose haben Sie für die Bundestagswahl im nächsten Jahr?
Quent: Das kommt sehr darauf an, wie sich die Debatte jetzt weiter bewegt. Im Moment orientiert sich alles an der AfD. Die AfD ist nicht in der Regierungsverantwortung. Sie wird auch nicht dorthin kommen auf der Länderebene.
Und trotzdem orientiert sich auch das Wahlverhalten ganz stark daran. Wenn die Hälfte der CDU-Wähler und -Wählerinnen sagt, sie haben die CDU gewählt, damit die AfD nicht an Stärke gewinnt, dann zeigt das ja auch die Entpolitisierung und die Inhaltsleere der Angebote und der Diskussionen, aber auch der Nachfrage der Wählerschaft der demokratischen Parteien.
Wenn wir jetzt ein Jahr weiter über Notstand und Migration diskutieren und wie schlimm die AfD ist und wie man alles darauf ausrichten muss, dass die AfD nicht noch größer wird, dann wird die AfD genau das: immer größer.
Wir müssen wieder andere Themen in den Mittelpunkt stellen. Die demokratischen Parteien müssen eigene politische Angebote machen, müssen die Nischen füllen, die sie offen gelassen haben. Dann kann die AfD auch wieder geschwächt werden.
Gleichzeitig muss man ja sagen, dass auch im bundesweiten Trend mit 15 bis 16 Prozent die AfD im Moment bei weitem nicht die Strahlkraft erreicht, die Rechtsaußenparteien in Europa haben. Also, im bundesweiten Kontext kann man dem etwas gelassener entgegensehen, als die Situation in Ostdeutschland es vermuten lässt, wo die Situation ja wirklich im Moment auf die weitere Destabilisierung hindeutet.
Das Gespräch führte Kirsten Gerhard. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.