Der mutmassliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird zu einem Hubschrauber gebracht.
interview

Attentat von Solingen "Es ist definitiv ein Video, das den Attentäter zeigt"

Stand: 27.08.2024 19:53 Uhr

Das Bekennervideo zum Anschlag von Solingen gibt Aufschluss über die Tat. Im Interview erklärt IS-Experte Aymenn Jawad Al-Tamimi, warum er es für authentisch hält - und warum Täter im Auftrag des sogenannten IS so unberechenbar sind.

tagesschau.de: Herr Al-Tamimi, Sie haben das Bekennervideo des mutmaßlichen Attentäters von Solingen übersetzt. Inwiefern ist das Video authentisch?

Aymenn Jawad Al-Tamimi: Ich habe das Video am Sonntagabend nach der Tat von Solingen in einem Telegram-Kanal gefunden, wo offizielle Propaganda des sogenannten Islamischen Staats verbreitet wird, auf Arabisch. Das Video trägt außerdem das offizielle Logo der "Amaq News Agency", dem offiziellen Sprachrohr der Terrororganisation. Und das waren schon sehr gute Anhaltspunkte, dass das Video tatsächlich authentisch ist.

Ich habe das Video dann heruntergeladen und analysiert. Wenn man die Informationen im Video abgleicht mit denen der deutschen Behörden, dann passt das zusammen. Es ist definitiv ein Video, das den Attentäter zeigt.

Zur Person

Aymenn Jawad Al-Tamimi ist ein irakischer Forscher und Übersetzer mit besonderem Fokus auf den sogenannten Islamischen Staat und seine Propaganda. Er hat über die historischen Erzählungen in der Propaganda des Islamischen Staates promoviert und schreibt u. a. für englischsprachige Medien über die Terrororganisation. Er lebt in Spanien.

tagesschau.de: Ist es ungewöhnlich, dass das Video erst zwei Tage nach der Tat verbreitet wurde?

Al-Tamimi: Nein, zwischen Tat und Veröffentlichung eines Bekennervideos liegen oft einige Tage. Die ersten Informationen dazu, dass der Angreifer von Solingen ein Soldat des sogenannten Islamischen Staates sei, wurden übrigens bereits einen Tag nach der Tat über die Propagandakanäle des Islamischen Staates veröffentlicht. 

tagesschau.de: Was genau ist auf dem Video zu sehen?

Al-Tamimi: Das Video besteht aus drei einzelnen Clips, die der Attentäter selbst von sich gedreht hat. Im ersten Clip sieht man ihn in einem Raum. Er ist maskiert und erklärt seine Treue zum sogenannten IS. Er sagt, dass er ursprünglich aus einer Provinz im Osten Syriens komme. Das passt zu den Details, die wir über den Angreifer kennen. Er spricht darüber, dass die sogenannten Kreuzritter - also Christen - Massaker in Bosnien, in Palästina, in Syrien und dem Irak begangen hätten. Und er schwört, dass er sie zerstückeln werde.

Im zweiten Clip wendet er sich mit einer Botschaft an seine Eltern, wo er sie um Vergebung bittet. Und er erklärt nochmal, die Menschen in Palästina rächen zu wollen.

Und im letzten Clip, der vielleicht der wichtigste ist, um festzustellen, dass das Video authentisch ist, ist er draußen in Solingen und sagt, dass er kurz davor sei, in die Menschenmenge zu tauchen und den Anschlag auszuführen. Hier ist sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber im Hintergrund des Clips sieht man zwei Werbeplakate. Diese, das wissen wir inzwischen, hängen an der Außenwand eines Parkhauses in Solingen, unweit des Tatorts.

Polizisten suchen in der Innenstadt von Solingen in der Nähe eine gesperrten Unterführung nach Beweisstücken.

Polizisten suchen in der Innenstadt von Solingen nach Beweisstücken. Hier soll das Bekennervideo aufgenommen worden sein.

tagesschau.de: Sie beobachten die Propagandakanäle des sogenannten IS. Hat es Sie überrascht, dass eine Tat, die der IS für sich reklamiert, ausgerechnet jetzt passiert?

Al-Tamimi: Nein, das überrascht mich nicht. Der sogenannte IS ruft seine Anhänger fortwährend dazu auf, Angriffe gegen Juden und Christen überall auf der Welt auszuführen und allgemein gegen alle sogenannten Ungläubigen zu kämpfen. Der andauernde Konflikt zwischen Israel und der Hamas befeuert sicherlich, dass Menschen sich radikalisieren. Aber es ist auch Teil ihrer allgemeinen ideologischen Agenda. Das ultimative Ziel des sogenannten IS ist ja ein Kalifat, das die gesamte Welt umspannt.

tagesschau.de: Was sind die Kriterien dafür, dass der sogenannte IS eine Tat für sich reklamiert?

Al-Tamimi: Es reicht, dass jemand seine Treue dem sogenannten IS gegenüber beweisen kann, in Form eines Videos zum Beispiel, und im zweiten Schritt den Anschlag erfolgreich ausführt. Das gilt für den Täter von Solingen genauso wie für diejenigen, die den Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau Anfang des Jahres ausgeführt haben.

Am Schluss ist es egal, mit welchem regionalen Zweig des sogenannten IS sie in Kontakt waren, ob sie direkt vom IS beauftragt wurden oder auf eigene Faust handeln. Das, was in Solingen passiert ist, würde ich zum Beispiel nicht als Teil einer größeren Strategie sehen, die der sogenannte IS gegenüber Deutschland hat. Es hat eher damit zu tun, wer wann wo die Gelegenheit hat, einen Anschlag auszuführen.

tagesschau.de: Macht es das für Sicherheitsbehörden auch schwierig, jeden potenziellen Attentäter vorab zu identifizieren?

Al-Tamimi: Das ist auf jeden Fall ein Problem. Eine Person kann zum Beispiel aus Syrien nach Deutschland kommen und hier einen Asylantrag stellen, weil sie tatsächlich vor dem Bürgerkrieg flieht - und sich dann erst später radikalisieren und Unterstützer des sogenannten IS werden. Es gibt immer die Möglichkeit, dass das passiert.

Das Gespräch führte Susanna Zdrzalek, WDR.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 26. August 2024 um 08:21 Uhr.