Nach Anschlag in Solingen Wie stark ist der IS noch?
Militärisch ist der sogenannte Islamische Staat weitgehend besiegt. Dass die Terrorgruppe den Anschlag von Solingen für sich beansprucht, könnte einen Grund haben: einen Wettlauf von Islamistengruppen um mediale Aufmerksamkeit.
Schwarz vermummte Männer, die die Flagge des vermeintlichen Kalifats schwingen, grausame Enthauptungsszenen: Die Bilder der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) haben viele noch vor Augen. Doch in den vergangenen Jahren ist es medial ruhiger geworden um den IS.
Eine trügerische Ruhe, sagen Terrorismusexperten. Vor allem in Syrien und im Irak ist der IS nie verschwunden. "Der IS hat seine Fähigkeit verloren, eine organisierte militärische Truppe zu bilden. Stattdessen ist die Organisation in den Untergrund gegangen und ist damit noch gefährlicher geworden, wenn es um Terrorangriffe geht", sagt Yeghia Tashjian von der American University Beirut.
Herkunftsort des Attentäters ist IS-Hochburg
Gerade die Region um Deir ez-Zor, der Herkunftsort des mutmaßlichen Attentäters von Solingen, gilt als eine der IS-Hochburgen. In letzter Zeit kam es dort nach Berichten der Vereinten Nationen vermehrt zu Gewalt: IS-Angriffe und Konflikte zwischen arabischen Gruppen und den von den USA unterstützten Kurden.
"Der IS ist in der Region von Deir ez-Zor und Hasaka aktiv. Über die Vorherrschaft in dieser Region streiten die Kurden, die syrischen Regierung in Damaskus und der Iran", erklärt Tashjian. Der IS nutze diesen Konflikt der verschiedenen Gruppen und finanziere sich unter anderem durch den Verkauf von Öl, das es in der Region gibt. "Und solange die regionalen Konflikte in Nordostsyrien nicht gelöst sind, kann der IS seinen Einfluss dort ausbauen."
IS nutzt regionale Konflikte für sich
Die Schwäche der existierenden Staaten und Strukturen nutzt der IS, um Stärke zu generieren. So auch schon 2014, vor genau vor zehn Jahren, zur Hochzeit des IS: Damals überrannten die Kämpfer der Terrormiliz aus Syrien kommend große Teile des Nachbarlands Irak und riefen in der irakischen Stadt Mossul ihr sogenanntes Kalifat aus. Es kam zu grausamen Massakern, zum Beispiel an den Jesiden.
Guillaume Soto-Mayor vom Middle East Institut in Washington beobachtete den Aufstieg des IS-Kalifats. Das Erstaunliche war, "dass es zum ersten Mal eine dschihadistische Organisation mit globaler Reichweite gab, die in der Lage war, Kämpfer aus allen Ecken der Welt anzuziehen. Und, die eine territoriale Kontrolle über die Finanzstruktur und Verwaltung hatte und damit eine Reihe von militärischen Aktionen durchführen konnte. Zudem konnte der IS einen sehr gut entwickelten internationalen Kommunikationsapparat einsetzen."
Viele Schläferzellen
Damals bildete sich eine internationale Anti-IS-Koalition und bekämpfte gemeinsam mit irakischen Truppen die Extremisten. 2017 dann die Erfolgsmeldung: Der IS sei im Irak besiegt.
Doch bezog sich dieser Sieg nur auf eine militärische Zerschlagung der Terrororganisation im Irak und teilweise auch in Syrien. Doch Schläferzellen und Sympathisanten gab und gibt es vor allem im Nordosten Syriens noch zuhauf. Dazu kommen die vielen IS-Familien, die in Nordostsyrien in Lagern unter schwierigen Umständen leben, von den Kurden als Verbündete der USA bewacht. Ihre Kinder wachsen mit dem islamistischen Gedankengut auf.
Mehr Waffen und Ressourcen als je zuvor
Die Gefahr durch den IS sei bis heute nicht gebannt, sagt auch Terrorismusexperte Hans Jakob Schindler von der Nichtregierungsorganisation Counter Terrorism Projekt vor wenigen Wochen, im Gegenteil: "Also wenn ich rein auf die Terrorsituation gucke, haben wir jetzt mehr terroristische Kämpfer, größere Gebiete unter Kontrolle, mehr finanzielle Ressourcen und Waffen als jemals in meiner professionellen Erinnerung."
Mittlerweile gibt es viele Regionen weltweit, in die sich der IS mit seinem Gedankengut ausgebreitet hat - beispielsweise auf den Philippinen oder in Westafrika.
Allerdings habe sich die Taktik des IS gewandelt: Statt großer Anschläge setze man zunehmend auf das Prinzip des Einzeltäters, so Terrorismus-Experte Soto-Mayor. "Der Verlust von Territorium in Syrien und im Irak bedeutet, dass sie sich im Moment auf kleine Strukturen verlassen müssen. Sie müssen also jetzt eher auf spontane Angriffe von Leuten setzen, die sehr oft psychische Probleme haben. Die dann Messerangriffe oder ähnliche Taten verüben."
Perfider Wettkampf der Terrororganisation
Ob es sich wirklich bei Attentätern wie in Solingen um unmittelbar gesteuerte IS-Anhänger handelt oder ob der IS auch Aktionen von gestörten Einzeltätern nutzt, um sich medial in Szene zu setzen, ist schwer zu sagen. Denn der IS habe ein großes Interesse an medialer Aufmerksamkeit, sagt Schindler: "Man muss weiterhin Sympathisanten rekrutieren. Man muss zeigen, dass man noch Relevanz hat. Und man muss schlicht und ergreifend weiterhin in den Medien bleiben, um neue Spender zu generieren. Also der Druck ist sehr hoch, wieder in die Medienberichterstattung zurückzukehren und den ersten Platz einzunehmen - vor der Hamas."
Findet gerade eine Art Wettlauf der Terrororganisation weltweit um die maximale Aufmerksamkeit statt? Die Hamas in Gaza, die Hisbollah im Libanon, die Huthi-Miliz im Jemen, Boko Haram in Nigeria, Al Kaida, IS und Co - auch die Gefahr von größeren Anschlägen in Deutschland sei nicht gebannt, betonen Terrorismusexperten. Dies zeigten auch Verhaftungen von IS-Sympathisanten in den vergangenen Monaten.