Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei in Solingen
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Solingen Hat der Tatverdächtige falsche Asylangaben gemacht?

Stand: 26.08.2024 16:50 Uhr

Nach Informationen von WDR und NDR soll der Tatverdächtige von Solingen sich auf einen Verwandten in Deutschland berufen haben, den die Behörden aber nie feststellen konnten. Offenbar nutzte der Syrer seine Rechtsmittel sehr gezielt.

Von Manuel Bewarder und Florian Flade, WDR/NDR 

Der Tatverdächtige des Anschlags von Solingen hat in seinem Asylverfahren möglicherweise falsche Angaben gemacht. Nach Informationen von WDR und NDR wurde der Syrer Issa al H. im Jahr 2023 mindestens zwei Mal von deutschen Behördenvertretern zu seiner Flucht aus Syrien befragt. Dabei soll er unter anderem erklärt haben, dass er nach Deutschland wegen eines Verwandten wolle, der sich bereits hier aufhalte. Eine solche Person hätten die Behörden anschließend aber nicht festgestellt. 

Bei seinem Asylantrag soll der Tatverdächtige verschiedene Fluchtgründe genannt haben: In Syrien drohe ihm der Wehrdienst und zudem eine Strafe für seine Flucht. Zudem käme er aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Er habe erklärt, dass er in Deutschland arbeiten wolle, um seine Familie in Syrien mit Geld zu unterstützen. Von einer Gefahr, die ihm durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) drohen könnte, soll er nichts berichtet haben.

Gegen 21:45 Uhr soll der 26-jährige Issa al-H. am vergangenen Freitag völlig unvermittelt auf die Besucher des Solinger Stadtfestes, anlässlich des 650. Geburtstags der Stadt, eingestochen haben. Dabei wurden zwei Männer im Alter von 56 und 67 Jahren und eine 56-jährige Frau getötet. Weitere sechs Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. 

Er hatte sich am Samstagabend gestellt und sitzt in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren mittlerweile übernommen und wirft dem Mann unter anderem vor, sich dem IS angeschlossen zu haben.

Mehrere Fragen noch ungeklärt

Die Tat hat die Debatte um die deutsche Asylpolitik der vergangenen Jahre wieder entfacht. Mehrere Fragen zum Fall von al H. sind aber noch ungeklärt. Wie unter anderem "Spiegel" und "Welt" am Wochenende berichteten, soll al H. im Januar 1998 in der syrischen Stadt Deir al-Sor geboren worden sein. Ende 2022 ist er schließlich nach Deutschland eingereist und stellte in Bielefeld einen Asylantrag. Da er zuvor aber bereits in Bulgarien registriert worden war, wäre das Land nach den sogenannten Dublin-Regeln für den Antrag zuständig gewesen. 

Das heißt: Eigentlich hätte der Syrer nicht mehr in Deutschland sein sollen. Warum er aber trotzdem hierbleiben konnte, das scheint noch nicht ganz geklärt. Wichtig für die Einordnung ist, dass insgesamt viele Dublin-Überstellungen scheitern. Laut Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gab es 2023 fast 8.000 Übernahmeversuche an Bulgarien, aber nur 266 Mal klappte eine solche Rücküberstellung. Weder das BAMF, das für die Durchführung von Asylverfahren zuständig ist, noch die Ausländerbehörde Bielefeld, deren Aufgabe die Rückführung wäre, äußerten sich zunächst auf Nachfragen. 

Nach Informationen von WDR und NDR soll al H. Anfang 2023 seinen sogenannten Dublin-Bescheid erhalten haben. Eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags hatte offenbar nicht stattgefunden, da die Zuständigkeit von Bulgarien klar schien. Die bulgarischen Behörden stimmten einem Übernahmegesuch aus Deutschland zu. Der Syrer klagte gegen den Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Minden. Wie eine Sprecherin des Gerichts WDR und NDR erklärte, war die Klage des Syrers gegen die Überstellung am 13. März eingegangen.

Überstellung nach Bulgarien gescheitert

Anfang Juni 2023 sollen Mitarbeiter der Ausländerbehörde Bielefeld dann versucht haben, den Syrer nach Bulgarien zu überstellen. Wie in vielen anderen Fällen wurde er aber nicht an seinem damaligen Wohnort in der Flüchtlingsunterkunft Paderborn angetroffen. Der Recherche zufolge sollen sich die Mitarbeiter aber nicht bei Nachbarn oder beim Wachdienst nach dem Aufenthaltsort von al H. erkundigt haben. Anschließend soll es auch keine Fahndung nach ihm gegeben haben.

Das BAMF wurde über den gescheiterten Versuch offenbar nicht informiert. Das wiederum soll dann Konsequenzen für bestimmte Fristen gehabt haben: Die europäischen Regeln sehen nämlich vor, dass ein Land nur eine gewisse Zeit verstreichen lassen kann, um einen sogenannten Dublin-Fall in das eigentlich zuständige Land zurückzuschicken. Wird diese Frist nicht verlängert oder überschritten, übernimmt das Land, in das die Person weitergereist ist, die Zuständigkeit für den Asylantrag.

So war es offenbar hier: Das BAMF besaß keine Informationen über ein vermeintliches Abtauchen, um die Frist zu verlängern. Also übernahm Deutschland am 20. August 2023 das Asylverfahren von Bulgarien. Den durch den Syrer angefochtenen Bescheid vom 27. Februar erklärte das BAMF damit für aufgehoben, wie das Verwaltungsgericht Minden erklärte.

Offenbar gut beraten

Al H., der bei seinem Antrag seine Rechtsmittel offenbar gezielt nutzt und anscheinend gut beraten war, soll nur wenige Tage darauf seine Klage gegen den Überstellungsbescheid nach Bulgarien zurückgezogen haben. Dadurch war die juristische Auseinandersetzung um eine Überstellung nach Bulgarien beendet und sein aussichtsreiches Asylverfahren in Deutschland konnte starten. Bereits im Dezember 2023 wurde dem Syrer, der mittlerweile in Solingen lebte, der erfolgreiche Schutzantrag zugestellt. 

Bis zur Tat war der Mann den Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen. Auf die entscheidende Spur, die schließlich zu dem nun dringend Tatverdächtigen geführt hat, stießen die Ermittler der nordrhein-westfälischen Polizei am Samstagmorgen. Der mutmaßliche Attentäter hatte offenbar seine Jacke verloren oder absichtlich weggeworfen. Jedenfalls wurde das Kleidungsstück in der Nähe des Tatortes entdeckt. In der Jacke befand sich das Portemonnaie des Syrers mit dessen Aufenthaltspapieren.

Ebenfalls am Samstag verfolgten die Ermittler mit Hilfe eines sogenannten "Mantrailer"-Hundes, der für die Suche nach Personen eingesetzt wird, eine Blutspur. Der Attentäter hatte sich demnach wohl bei seiner Tat selbst verletzt. Der Hund führte die Polizei schließlich zu einer Asylunterkunft in Solingen. Auf dem Weg dorthin durchsuchten die Ermittler auch Grünflächen und Mülleimer, und entdeckten dabei die mutmaßliche Tatwaffe, ein Messer. 

In der Asylunterkunft, in der Issa al-H. zuletzt wohnhaft war, wurde der Syrer allerdings nicht angetroffen. Mittlerweile gehen die Ermittler davon aus, dass Al-H. nach dem Anschlag irgendwo in der Stadt, vermutlich in einem Hinterhof, versteckt hatte. Die Fahndungsmaßnahmen verliefen zunächst erfolglos. Erst am Samstagabend dann stellte sich Issa al-H. einer Polizeistreife und wurde festgenommen.

Da die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) die Messerattacke für sich reklamiert hat, geht der Generalbundesanwalt davon aus, dass Issa al-H. aus einer "radikal-islamistischen Überzeugung" den Entschluss gefasst hat, "auf dem Solinger Stadtfest eine möglichst große Anzahl aus seiner Sicht ungläubiger Menschen zu töten", so heißt es in einer Mitteilung der Behörde. 

Den Behörden nicht als gefährlicher Extremist bekannt

Die Propagandaabteilung "Amaq" der Terrorgruppe IS hatte am Wochenende zunächst ein Bekennerschreiben samt Foto, später dann auch ein Video des mutmaßlichen Attentäters veröffentlicht. Darin erklärt der Islamist, dass er Rache für die getöteten Muslime in Gaza, in Bosnien und anderen Teilen der Welt üben wolle. Er leistete zudem den Treueeid auf den Anführer des IS. Es ist nach dem Lkw-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz der erste Terroranschlag in Deutschland, zu dem sich der IS offiziell bekannt hat.

Issa al-H. war den Sicherheitsbehörden bislang nicht als gefährlicher Extremist bekannt gewesen. Weder beim Verfassungsschutz noch bei der Polizei war der Syrer wegen einer möglichen Radikalisierung aktenkundig. Auch kriminalpolizeilich soll Al-H. bislang nicht in Erscheinung getreten sein. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 26. August 2024 um 17:00 Uhr.