"Tomahawk"-Marschflugkörper (Archivbild: 2017)

Geplante Stationierung in Deutschland Der Krampf mit den Waffen

Stand: 12.10.2024 18:42 Uhr

2026 sollen US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden. Der Beschluss von Kanzler Scholz sorgt weiter für Unmut. Politik und Experten plädieren für eine breitere Debatte.

Es ist Donnerstagabend, 21:17 Uhr, als sich der Bundestag erstmals Zeit nimmt, um über eine in mehrfacher Hinsicht weitreichende Entscheidung zu debattieren: die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland.

Eine "Ungeheuerlichkeit" nennt es der Linken-Abgeordnete Dietmar Bartsch, wie die Entscheidung getroffen und kommuniziert wurde. Seine Bundestagsgruppe will die Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA annullieren lassen.

Dazu wird es aller Voraussicht nach nicht kommen, aber seitdem SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juli am Rande eines NATO-Gipfels in Washington die Stationierung verkündete, schwelt eine Debatte über Sicherheit, Ängste und Sorgen. Denn anders als von Scholz damals behauptet, kam die Entscheidung selbst für viele Beobachter überraschend. Auch weil sie nicht innerhalb der NATO vereinbart wurde.

Geteilte Meinung in der Bevölkerung

Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend von infratest dimap sprechen sich nun 45 Prozent der Befragten gegen die Stationierung aus und nur 40 Prozent dafür. In Ostdeutschland, wo die Waffen aufgrund des Zwei-plus-Vier-Vertrags nicht stationiert werden dürften, beträgt die Ablehnung sogar 57 Prozent. Umfragen anderer Institute zeichnen seit Juli ein ähnliches Bild.

Scholz hatte damals auf die russische Aufrüstung seitdem Angriff auf die Ukraine verwiesen und gesagt, Deutschland müsse seine "Abschreckung sicherstellen".

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sprach zudem von einer "ernstzunehmenden Fähigkeitslücke", die es zu schließen gelte. Die drei Waffensysteme, die 2026 dann stationiert werden sollen, können bis Russland reichen. Sie sind teils nuklear bestückbar, sollen aber ausschließlich konventionell eingesetzt werden. Auf eine Regierungserklärung oder dergleichen hat der Kanzler bislang verzichtet.

Derweil reicht die Kritik an den Plänen bis weit in die SPD hinein. Fraktionschef Rolf Mützenich warnt vor der Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke fordert eine breitere Diskussion. Und der SPD-Linke Ralf Stegner sprach sich auf einer größeren Anti-Kriegs-Demo am 3. Oktober in Berlin klar gegen die Raketenpläne aus. Dieselbe Forderung vertraten dort auch Sahra Wagenknecht und die Linken-Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Protestforscher: "Katastrophal kommuniziert"

Der Protestforscher Alexander Leistner von der Universität Leipzig beobachtet die Friedensbewegung. Er sagt, die Entscheidung für die Stationierung sei "katastrophal kommuniziert worden". Die Diskussion verlaufe seitdem mit einiger Schieflage. So gehe oft unter, dass es, anders als in den 1980er-Jahren, als es zum umstrittenen NATO-Doppelbeschluss kam, sich nicht um Atomwaffen handelt. Auch würden zwei verschiedene "Deutungshorizonte" aufeinandertreffen. "Die einen nehmen Russland als Bedrohung für Europa wahr, die anderen sehen einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine, der durch die Stationierung zu eskalieren droht", so Leistner. Dazwischen herrsche viel diffuse Angst.

Manche würden nun versuchen, "alles radikal auf Krieg-oder-Frieden zuzuspitzen". Zugleich seien friedenspolitische Expertisen gegenüber sicherheitspolitischen in den Hintergrund getreten, so Leistner. Beides erschwere, überhaupt erst einmal "eine geteilte Problemsicht" zu erreichen.

Bisherige Proteste seien dennoch weit entfernt von den Mobilisierungen gegen den NATO-Doppelbeschluss oder gegen den Irak-Krieg 2003. Damals hatten mehrere Hunderttausend Menschen in Bonn und Berlin demonstriert. Das Thema der Raketen werde aber bis zur Bundestagswahl zur Zuspitzung taugen, wovon mindestens Sahra Wagenknecht Gebrauch machen wird, glaubt Leistner.

Wagenknechts BSW fährt bislang eine Doppelstrategie. Im Bund fordert die Partei eine Volksbefragung. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg macht sie derweil eine Ablehnung der Pläne zur Bedingung für mögliche Koalitionen. Von den Raketen gehe eine "massive Gefahr für die Bevölkerung" aus, sagt etwa die Bundestagsbgeordnete Sevim Dagdelen.

Was für und gegen die Waffen spricht

Befürworter der Stationierung beklagen wiederum, in der Debatte würden bewusst Halbwahrheiten eingesetzt. Demokratie und Rechtsstaat seien es in jedem Fall wert, "verteidigt zu werden", so der SPD-Abgeordnete Falko Droßmann. Ähnlich äußert sich der Koalitionspartner FDP.

Demnach ist die Stationierung vor allem eine Reaktion auf russische Kurzstreckenraketen, die seit 2018 in der russischen Enklave Kaliningrad stationiert sind. Das nuklear bestückbare System kann von dort nahezu ganz Polen und Teile des Baltikums und Deutschlands erreichen.

Wichtigster Stichwortgeber vieler Kritiker wiederum ist Oberst a. D. Wolfgang Richter. Der Sicherheitsexperte hat die geplante Stationierung früh hinterfragt und macht dabei drei Punkte.

So werde Deutschland durch die einseitige Vereinbarung mit den USA "singularisiert", da andere europäische Partner die Risiken der Stationierung nicht teilen. Richter bezweifelt zudem, dass es eine Fähigkeitslücke gibt. Die NATO könne schon heue Ziele in Russland angreifen. Die neuen Raketen würden jedoch die Warnzeiten erheblich reduzieren. Damit verändere sich "das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland". Sprich: Instabilität droht.

In den tagesthemen verteidigt Richter am Donnerstag das Konzept der Abschreckung. Es fehle bei den Stationierungsplänen aber ein "Angebot, wie man aus der Spirale herauskommen kann", so der Experte. Denn das Vertragswerk, das bislang eine Aufrüstung zwischen den USA und Russland beschränkt hatte, zerbröselt. Stand jetzt verbleibt nur ein einziger Atomwaffen-Kontrollvertrag zwischen den beiden Staaten. Und dieser ist ausgesetzt und läuft 2026 aus.

Rufe nach einer breiteren Debatte

So trifft die Entscheidung der Bundesregierung für die Raketen auf eine Bevölkerung, die sich in Umfragen zwar deutlich zum NATO-Bündnis bekennt. Gleichzeitig wächst aber die Sorge vor einem Krieg.

Protestforscher Leistner fordert vor diesem Hintergrund eine breite gesellschaftliche Debatte. Diese sollte definieren, "was Frieden überhaupt bedeutet und welche Strategien es dafür braucht". Die Friedensbewegung der 1980er-Jahre habe diese Debatte zumindest versucht, so Leistner. Heute wiederum sei es wichtig, dafür "nicht nur auf die Personen zurückzugreifen, die am lautesten und häufigsten das Wort Frieden vor sich hertragen".

Derweil kommt am Donnerstagabend im Bundestag auch von Unterstützern der Raketenstationierung Kritik an Olaf Scholz auf - sowohl innerhalb der Opposition wie der Koalition. Moskau verstehe nur eine Politik der "Abwehr und Abschreckung", sagt der CSU-Abgeordnete Florian Hahn. Doch die "Nichtkommunikation" von Scholz führe "zu Verunsicherung in der Gesellschaft".

Die Grüne Merle Spellerberg sagt, neben einer breiten öffentlichen Debatte, brauche es auch eine Erklärung des Kanzlers. "Beides hat es bislang leider nicht gegeben." Nach etwas mehr als einen halben Stunde rückt das Plenum vorerst weiter zum nächsten Tagesordnungspunkt.