Frank-Walter Steinmeier
reportage

Steinmeier in Stendal "Die Erreichbaren erreichen"

Stand: 27.08.2024 15:33 Uhr

Bundespräsident Steinmeier war drei Tage lang in Stendal in Sachsen-Anhalt. Das Ziel: Mit Menschen ins Gespräch kommen. Mit wem will Steinmeier reden? Und was ist damit erreicht?

Von Martin Polansky, ARD-Hauptstadtstudio

Die Sonne scheint über der hübschen Fußgängerzone in Stendal, Leute sitzen in Eiscafés, viele Polizisten und Personenschützer sind zu sehen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bewegt sich im Tross durch die Breite Straße.

Aber Johanna Schröder bekommt ihr Foto mit dem Bundespräsidenten. Ein kurzes Gespräch. Dann geht Steinmeier weiter. Die Frau freut sich sichtlich. Auch wenn es sonst nicht nur Grund zur Freude gibt derzeit. Denn die Inflation macht ihr zu schaffen, erzählt sie. "Was ist heute nicht teuer? Der Sprit, die Lebensmittel. Man sieht es ja auch am Brot, wie teuer das geworden ist."

Verhaltene Stimmung

Die Stimmung in der Fußgängerzone von Stendal, auf die Steinmeier trifft, ist eher verhalten. Viele Passanten schauen interessiert, aber kein Beifall kommt auf, selbst wenn Steinmeier immer wieder den Leuten zuwinkt. Immerhin ist das Staatsoberhaupt aus Berlin zu Besuch. Die einen machen Handy-Fotos, die anderen verfolgen das Ganze eher mit verschränkten Armen.

Steinmeier ist für drei Tage nach Stendal gekommen. "Ortszeit" heißt das Format offiziell. Der Bundespräsident nimmt sich Zeit, versucht ins Gespräch zu kommen außerhalb der Bundeshauptstadt. "Die Sprachlosigkeit in der Gesellschaft oder mancherorts auch die Entfernung der Menschen von der Politik, die ist eine Gefahr. Das ist Gift für die Demokratie", betont Steinmeier zum Auftakt seiner Ortszeit am Sonntag.

"Irgendwann gab es den großen Knall"

Besuch auf einem Obsthof am Rand von Stendal. In langen Reihen stehen Apfelbäume, kein Ökobetrieb, aber es gibt Hofverkauf. Die Altmark im Norden von Sachsen-Anhalt ist stark ländlich geprägt, viele Landwirte von hier waren auch bei den Bauernprotesten in Berlin dabei.

Kerstin Ramminger vom Kreisbauernverband sagt, dass sich viele Landwirte oft übergangen fühlen - etwa bei Umweltvorschriften. "Dinge werden entschieden und dann macht mal. Das ist über Jahre so entstanden und irgendwann gab es den großen Knall."

André Stallbaum, der Juniorchef des Obsthofes, erzählt dem Bundespräsidenten, dass es immer mehr Berichtspflichten für die Landwirte gebe. "Ich verbringe wahnsinnig viel Zeit am Schreibtisch für sinnlose Dokumentationen und Nachweispflichten. Zeit, die mir für die eigentliche Arbeit fehlt."

Mit Blick auf die Gesamtstimmung beklagt Kerstin Ramminger, dass immer weniger miteinander geredet werde. Das sei irgendwie verloren gegangen. "Es gibt viele, die sagen: Ich sag nichts mehr. Ich komme dann in irgendeine Ecke. Man ist ja schnell rechts oder links. Warum auch immer sich das so entwickelt hat."

Lebhafte Debatte zur Migration

Es ist bereits Steinmeiers zwölfte Ortszeit. Für drei Tage verlegt der Bundespräsident seinen Dienstsitz in eine kleine Stadt - meist in strukturschwachen Gegenden, dahin, wo es größere Probleme gibt als anderswo. Der Schwerpunkt liegt mit bislang acht Ortszeiten in Ostdeutschland. Steinmeier weiß um die Stimmung. In Stendal ist die AfD bei der Kommunalwahl im Juni mit knapp 30 Prozent stärkste Kraft im Stadtrat geworden.

Mit wem reden? Zum Auftakt trifft der Bundespräsident Kommunalpolitiker im historischen Rathaus. Auch ein AfD-Vertreter ist bei der Runde hinter verschlossenen Türen dabei. Presseöffentlich ist dagegen die "Kaffeetafel kontrovers". Hier trifft Steinmeier ausgesuchte Vertreter der Stadtgesellschaft, jenseits der Parteipolitiker. Ein Dutzend meist engagierte Bürger. Ukraine-Hilfe, der offene Kanal, ein örtlicher Klinikchef, eine Schulleiterin und eine Frau von der Friseurinnung. Alles keine Krawallmacher.

Trotzdem lebhaft ist die Debatte zur Migration. Tenor: Es gibt viele Integrationsprobleme. Fachkräfte aus dem Ausland sind zwar willkommen - aber zu hohe Erwartungen sollte man da nicht haben. An der Kaffeetafel haben drei eine Migrationsgeschichte, darunter ein Oberarzt. Sie beklagen gelegentliche Anfeindungen oder abschätzige Blicke. Aber die drei betonen auch, dass sie sich in Stendal sehr wohl fühlen.

"Ich will nicht kriegstüchtig werden"

Beim Thema Ukraine kritisieren viele an der Kaffeetafel, dass die Bundesregierung zu stark auf Waffenlieferungen setze. Der Krieg müsse schnell beendet werden - durch Gespräche mit Russland. Auch Jochen Clauß sieht das so, der Hilfstransporte in die Ukraine organisiert und nebenbei auch SPD-Mitglied ist. "Die Hilfe hier vor Ort für die Ukraine lässt nach, die Stimmung ist eine andere als vor zwei Jahren." Clauß stört sich auch am Begriff "Kriegstüchtigkeit", den Verteidigungsminister Boris Pistorius aufgebracht hat. "Ich will nicht kriegstüchtig werden", betont Clauß. "Ich will mich verteidigen können, das ist okay. Aber kriegstüchtig werden will ich nicht."

Claudia Kuhn, Pfarrerin im Ruhestand, erinnert an die Forderung "Schwerter zu Pflugscharen", für die auch sie sich zu DDR-Zeiten stark gemacht habe. "Wir haben 1989 gezeigt, dass man eine Revolution auch ohne Waffen machen kann. Das hätte damals niemand geglaubt."

Steinmeier will die "Erreichbaren erreichen"

Zweieinhalb Stunden sitzt die Kaffeetafel zusammen. Steinmeier lässt beim Thema Ukraine keinen Zweifel daran, dass er es für notwendig hält, die Ukraine auch mit Waffen zu unterstützen, solange Putin nicht einlenkt. Anschließend bedankt sich der Bundespräsident für den Meinungsaustausch, ermuntert dazu, mehr solcher Runden in Stendal zu organisieren. Demokratie lebe schließlich vom rationalen Argumentieren.

Steinmeier lässt aber auch durchblicken, wo er die Grenzen seiner Ortszeiten sieht: "Für mich gilt der Satz: Die Erreichbaren erreichen." Der Satz lässt erahnen, dass Steinmeier manche nicht mehr für erreichbar hält. Vielleicht ein Grund, warum Steinmeier während der drei Tage in Stendal die Fundamentalkritiker, die Wütenden und Abgewandten eher nicht trifft. "Es gibt Menschen, die sich verschließen, die sich auch mir gegenüber nicht zeigen", sagt der Bundespräsident auf Nachfrage. "Das muss ich hinnehmen." Aber Steinmeier zeigt sich nach drei Tagen Ortszeit in Stendal überzeugt: "Es gibt von den Erreichbaren mehr, als wir denken."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 27. August 2024 um 10:28 Uhr.