Minderheitsregierungen im Osten Reden mit allen, abstimmen nicht mit jedem
Für neue Gesetze sollen in Sachsen und Thüringen künftig alle Fraktionen einbezogen werden, auch die AfD. Nur mitstimmen darf sie nicht. Das sogenannte Konsultationsverfahren soll eine Misere lösen, sorgt aber für Kritik.
Es ist die Flucht nach vorn. Sachsen und Thüringen könnten sehr bald von Minderheitsregierungen regiert werden, von politischen Notlösungen also. Und doch versprechen die Beteiligten in beiden Freistaaten nicht weniger als eine "neue politische Kultur". Sinnbild dafür soll ein sogenannter Konsultationsmechanismus beziehungsweise -verfahren sein.
Sowohl CDU, BSW und SPD, die am Freitag in Erfurt einen Koalitionsvertrag vorstellen wollen, als auch CDU und SPD in Dresden, die gerade noch eine Koalition aushandeln, sehen darin den Ausweg aus ihrer schwierigen Lage: dem Regieren ohne eigene Mehrheit.
Um rechtzeitig ein Gefühl zu bekommen, was politisch durch den Landtag geht, sollen die Oppositionsfraktionen frühzeitig in Gesetzesvorhaben der geplanten Minderheitsregierungen eingebunden werden. Damit gehen ihnen Entwürfe bereits vor einer Verabschiedung durch das Kabinett und damit auch vor der Einbringung in den Landtag zu.
Viele neue Probleme
Es gehe darum, dass jede Fraktion und jeder Abgeordnete "eigene Vorschläge, eigene Anregungen" entwickeln kann, "die eingearbeitet werden können und auch sollen". Das sagt Michael Kretschmer, sächsischer CDU-Chef und geschäftsführender Ministerpräsident des Freistaates. Kaum ein Beteiligter erwartet wohl allerdings wirklich, dass sich tatsächlich damit ein reibungsloses Regieren sichern lässt.
Der Politikwissenschaftler Hendrik Träger von der Universität Leipzig sieht eine Reihe von Problemen. So werde jede Oppositionsfraktion ihr Abstimmungsverhalten von inhaltlichen Änderungen abhängig machen. Diese Vorschläge wiederum werden untereinander kaum vereinbar sein. "Wenn die Regierung dann der einen Seite entgegenkommt, verprellt sie die andere Seite", so Träger.
Und das bislang zweistufige Gesetzgebungsverfahren wird nun dreistufig. Erst einigt sich die Koalition auf ministerialer Ebene. Dann werden weitere Fraktionen einbezogen. Damit ist es aber nicht getan: In den Ausschüssen des Landtags steht noch die Anhörung von Fachverbänden, Betroffenen und Experten an. "Danach sind mitunter Anpassungen nötig - und damit wieder Verhandlungen", sagt Träger.
In Thüringen mahnt die Industrie- und Handelskammer Erfurt, das neue Verfahren dürfe nicht "nicht zulasten von Regierungshandeln und Entscheidungsgeschwindigkeit wirken". Träger hält es für denkbar, dass die Konsultation deshalb nach einer Zeit wieder entfällt und ein Einvernehmen stattdessen im parlamentarischen Prozess gesucht wird.
Welchen Einfluss die AfD hätte
Die Ausgangslage unterscheidet dabei zwischen Thüringen und Sachsen leicht. In Thüringen kommen CDU, BSW und SPD zusammen auf 44 von 88 Sitzen im Landtag. Hier sei die Koalition nicht auf die AfD angewiesen, sagt Träger. Schon die Enthaltung eines einzigen Abgeordneten der Linken könnte CDU, BSW und SPD zu einer Mehrheit verhelfen.
In Sachsen sei die Situation komplizierter. CDU und SPD stellen 51 von 120 Abgeordneten. Sie brauchen Ja-Stimmen aus der Opposition - entweder von einer der beiden größeren Fraktionen AfD und BSW oder von Linken und Grünen zusammen. Enthalten sich Letztere oder das BSW nur, dann können CDU und SPD jeweils vom Rest überstimmt werden.
Wohl auch deshalb fallen die Reaktionen in Sachsen bislang heftiger aus. Der Vorwurf: Die Konsultation untergräbt die Ausgrenzung der AfD. Sie bedeute de facto eine Zusammenarbeit. Die Vorsitzende der sächsischen Grünen, Christin Furtenbacher, schreibt auf X, die AfD solle "erstmals in die Regierungsarbeit in einem Land eingebunden werden". Das sei "ein Dammbruch von bundesweiter Bedeutung".
Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen betonen die Beteiligten aber, dass sie es nicht auf Stimmen der AfD ankommen lassen wollen. Für die SPD wäre eine solche Abstimmung sicher der Grund, jede Koalition platzen zu lassen.
Bleibt die Frage, wo eine Zusammenarbeit beginnt. Politikwissenschaftler Träger verweist auf den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU. Dieser schließt "jegliche Zusammenarbeit" mit der AfD aus. "Allein schon das Zuleiten eines geplanten Gesetzesvorhabens an die AfD-Fraktion kann aber als solche verstanden werden", so Träger.
Alternative möglich
Die CDU sieht das anders. Die Konsultation könne die AfD sogar schwächen, heißt es nun. Michael Kretschmer spricht von einer "Märtyrerrolle", die ende. Es werde eben auch mit der AfD gesprochen. Und dadurch, dass "wirklich alle" im Landtag mitwirken können, so Kretschmer, würden "auch die Gedanken und Interessen aller Bürger im Freistaat einbezogen".
Politikwissenschaftler Träger hat da Zweifel. "Die erhoffte Außenwirkung kann die Konsultation nur haben, wenn sie tatsächlich in alle Richtungen gleichermaßen offen ist", sagt er. Die AfD als größte Fraktion in Thüringen und zweitgrößte in Sachsen kategorisch bei Abstimmungen auszuschließen, würde der Partei in der jetzigen Lage nur helfen.
"Wenn ich die Tür aufmache, dann kann ich das nicht nur einen Spalt weit tun", so Träger. Oder die Koalitionen beziehen die AfD überhaupt nicht ein. Dafür müsste sie aber frühzeitig Vereinbarungen mit den anderen Fraktionen der Opposition für einzelne Politikfelder treffen.
Das Vorbild dafür wäre eine Minderheitsregierung aus Nordrhein-Westfalen. Hier fand eine Koalition aus SPD und Grünen ab 2010 wahlweise mit CDU, FDP und Linkspartei Mehrheiten. Das ging allerdings nur zwei Jahre lang gut, dann kamen Neuwahlen.
Träger sieht ein weiteres Problem in der Ausgrenzung der AfD. Sie bekommt dadurch gewissermaßen erst einen Hebel. Sobald die AfD ihre Zustimmung signalisiere, "und die anderen Fraktionen nicht", müsste die Koalition ihren Entwurf zurückziehen, so Träger. "Die Regierung würde sich dann vom Abstimmungsverhalten der AfD abhängig machen."
Träger mahnt zur Vorsicht. Er sagt: "Die AfD hat immer wieder bewiesen, dass sie strategisch agieren kann." Bislang hat die Partei eher verhalten auf die Idee der Konsultation reagiert.