Tiergartenmord-Prozess Der ukrainische Zeuge
Die Hoffnungen waren groß, dass der Tiergartenmord-Prozess einen Schritt vorankommen würde: Ein Ukrainer sollte die Identität des Angeklagten aufklären. Deutlich wurde, wie politisiert der Fall ist und riskant für Beteiligte.
"Ich möchte nicht über meine Gedanken sprechen, sonst müsste ich Asyl beantragen", antwortet der Zeuge dem Vorsitzenden Richter. Olaf Arnoldi hatte den 55-Jährigen gefragt, was er beim Lesen von Berichten über den Verdächtigen im Berliner Tiergartenmord gedacht habe.
Der Zeuge hatte einen langen Weg auf sich genommen. Nur wenige wussten von seiner Reise aus Charkiw im Osten der Ukraine zum Berliner Kammergericht. Seine Aussage macht er umgeben von Personenschützern des Bundeskriminalamtes (BKA). Sie könnte sich als Meilenstein im Prozess erweisen, wenn er den Angeklagten als Vadim Krasikov identifizieren könnte - den Ehemann seiner Schwägerin.
Auch nach bald neun Monaten Verhandlung besteht der Angeklagte darauf, Vadim Sokolov zu heißen. Er habe weder mit dem Mord an dem Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili im August 2019, noch mit der Person Vadium Krasikov zu tun, der laut Anklage die Tat im Auftrag russischer Stellen in Russland begangen haben soll.
Tattoos und ein T-Shirt des FSB
Kann ihn der Zeuge aus der Ukraine widerlegen? Als der Angeklagte auf Geheiß von Richter Arnoldi seine FFP2-Maske abnimmt und in seiner mit Panzerglas geschützten Kabine aufsteht, wird klar: Der Zeuge wird keine eindeutige Antwort geben. Ob er es nicht kann oder will, bleibt bis zum Ende des Verhandlungstages offen.
"Er sieht ihm ähnlich. Wenn er es ist, hat er sich sehr verändert", sagt der Zeuge über den Mann hinter dem Sicherheitsglas. Er habe ihn kräftiger und sportlicher in Erinnerung. Den Ehemann seiner Schwägerin habe er zuletzt vor zehn Jahren gesehen. Sie seien sich auch nur zwei Mal begegnet, bei einem Treffen im Park und während einer Geburtstagsfeier.
Auf älteren Familienfotos, die ihm vorgelegt werden, erkennt der Zeuge den Mann seiner Schwägerin. Doch an zwei markante Tattoos auf dem rechten Unterarm und dem linken Oberarm will er sich nicht erinnern: In seiner Anwesenheit habe Vadim immer lange Ärmel getragen. Auch kann der Zeuge nichts zu einem Bild sagen, auf dem ein Mann, der dem Angeklagten augenscheinlich ähnelt, ein schwarzes T-Shirt mit dem Emblem der Spezialeinsatzkräfte des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB trägt. So ein T-Shirt allein sagt allerdings wenig aus - man kann sie für einige 100 Rubel im russischen Internet kaufen.
Unter Druck
Die Familienfotos, eine Heiratsurkunde von Vadim Krasikov und andere Dokumente hatten ukrainische Ermittler Mitte März während einer Durchsuchung bei den Schwiegereltern des Zeugen sichergestellt. Ein Gericht in Kiew hatte sie auf ein Rechtshilfeersuchen aus Deutschland hin angeordnet. Allerdings begründete es den Durchsuchungsbeschluss bei dem betagten Ehepaar mit dem Verdacht auf Organisierte Kriminalität und illegalem Handel mit Betäubungsmitteln, Altmetall und anderem.
Auch beim Zeugen gab es Durchsuchungen und er wurde bereits in Charkiw vernommen. Als Richter Arnoldi fragt, ob bei der Vernehmung am 10. Juli Druck auf ihn ausgeübt worden sei, holt der Zeuge zunächst aus: "Ich bin ein Patriot meines Landes. Seit sieben Jahren dauert der Krieg zwischen der Ukraine und Russland." Er habe sich als Freiwilliger für die Unterstützung der ukrainischen Soldaten gemeldet. Er sei sich sicher, dass er deswegen auf diversen Listen stehe, sagt er auf eine spätere Frage, ob er sich vor Reaktionen von russischer Seite fürchte.
Außerdem herrsche ein Bandenkrieg. Es gebe "Banditen mit Schulterklappen", die einfach Land in Besitz nähmen. "Ich lebe in einem Land ohne Rechtsstaatlichkeit", erklärt er, um dann zu beschreiben, wie Vertreter von Ermittlungsbehörden und vom Innenministerium bei ihm und den Schwiegereltern aufgetaucht seien. Männern mit Maschinengewehren hätten sich Zutritt verschafft, Computer und Speichermedien beschlagnahmt. Vor drei Wochen sei außerdem eine Granate auf seinem Hof explodiert. Er lebe ständig unter Druck.
Politisches Interesse der Ukraine
Ob er freiwillig zur Vernehmung nach Deutschland gekommen sei, fragt der Vorsitzende Richter auch mit Blick auf einen Vermerk eines BKA-Beamten, wonach ein Polizist in Charkiw den Zeugen in mehreren Gesprächen zu überzeugen versucht hatte. Er habe sich nicht einschüchtern lassen, antwortet der Zeuge. Zur Reise habe er sich entschlossen, als er ein Schreiben des Gerichts in Berlin erhalten habe. Hier vor Gericht habe er "in seiner subjektiven Beurteilung" die Wahrheit gesagt - "maximal".
In der Ukraine werde massiver Druck ausgeübt, resümiert Strafverteidiger Robert Unger. Den Angeklagten habe der Zeuge nicht als den Mann seiner Schwägerin erkannt. Die Nebenklagevertretung bestätigt ihrerseits ein politisches Interesse der Ukraine, belastendes Material gegen den Angeklagten und den russischen Staat zu liefern. Aber der Zeuge habe sich nicht einschüchtern lassen und habe offen Kritik an den ukrainischen Ermittlungsbehörden geäußert, sagt Anwältin Johanna Künne. Ihre Kollegin Barbara Petersen weist andererseits auf die Sorge vor Reaktionen von russischer Seite hin. Als Richter Arnoldi den Zeugen schließlich entlässt, bedankt er sich ausdrücklich bei dem Ukrainer für das, was er auf sich genommen habe, um vor Gericht zu erscheinen.
Er war nicht der Erste, den das Gericht zur Vergangenheit der Person Krasikov befragt hat. Die Bundesanwaltschaft hatte zwei ehemalige Klassenkameradinnen seiner ersten Ehefrau ausfindig gemacht. Zudem vernahm das Gericht zwei Sachverständige für Gesichtsbildvergleiche. Sie stellten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Übereinstimmung bei Fotos des Angeklagten mit Fotos von Krasikov fest. Daneben gibt es die zahlreichen Indizien, die das Recherchenetzwerk "Bellingcat" mit dem russischen Partner "The Insider" zusammengetragen hat. Bei dessen Chefredakteur Roman Dobrochotow führten Ermittler am Mittwoch Durchsuchungen durch, er darf Russland nicht mehr verlassen.
Bestehen bleibt die Frage, ob der Angeklagte als Krasikov den Mord im Kleinen Tiergarten im Auftrag staatlicher Stellen in Russland beging, was politische Konsequenzen nach sich ziehen müsste. Verhandlungstermine sind inzwischen bis Ende September angesetzt - das ist nach der Bundestagswahl.