Fall vor Verfassungsgericht Sind Hartz-IV-Sanktionen rechtens?
Wenn Arbeitslose einen zumutbaren Job ablehnen, wird ihnen oft Hartz IV gekürzt. Doch darf der Staat vom Existenzminimum überhaupt noch etwas wegnehmen? Das überprüft nun das Verfassungsgericht.
Wie funktioniert Hartz IV?
Wer keine Arbeit hat, bekommt vom Staat Unterstützung. Das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich der Hartz-IV-Regelsatz, liegt derzeit für einen alleinstehenden Arbeitssuchenden bei 424 Euro pro Monat. Außerdem gibt es Geld für angemessenes Wohnen und Heizen sowie Zuschüsse zur Krankenversicherung und für besondere Bedürfnisse. Im Gegenzug sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Hilfebedürftigkeit - also die Arbeitslosigkeit - zu beenden oder zu verringern.
"Fördern und Fordern" nannte einst Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder dieses Prinzip. Wer sich weigert, beispielsweise zumutbare Arbeit anzunehmen, dem wird die Leistung gekürzt.
Wie ist das Thema vor das Bundesverfassungsgericht gekommen?
Im konkreten Fall geht es um einen arbeitslosen Mann aus Erfurt. Vom Jobcenter wurde ihm ein Job als Lagerarbeiter angeboten. Weil er lieber in den Verkauf wollte, lehnte er den Job ab. Daraufhin kürzte das Jobcenter ihm sein Arbeitslosengeld um 30 Prozent. Der damalige Hartz-IV-Regelsatz für eine alleinstehende Person lag bei 391 Euro. 117 Euro davon wurden ihm für drei Monate abgezogen. Weil ihn auch diese Sanktion nicht motivierte und er einen Gutschein zur Erprobung bei einem Arbeitgeber nicht einlöste, kam es zu einer weiteren Kürzung. Insgesamt bekam er nun 234,60 pro Monat weniger, also eine Kürzung von 60 Prozent.
Dagegen klagte der Mann. Das Sozialgericht Gotha setzte das Verfahren aus und schickte die Sache nach Karlsruhe. Die Thüringer Richter sind der Meinung, dass sämtliche Sanktionsregeln nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Wann werden Arbeitssuchende mit Sanktionen belegt?
Am häufigsten werden Sanktionen verhängt, weil die Menschen ihren Meldepflichten nicht nachkommen, also zum Beispiel, weil sie im Jobcenter zu einem Termin nicht erscheinen. Härter sind die Sanktionen zum Beispiel, wenn die Arbeitssuchenden sich weigern, eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung anzunehmen oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit - zum Beispiel eine Ausbildungsmaßnahme - nicht antreten oder abbrechen.
Welche Sanktionen sieht das Gesetz vor?
Verpassen Arbeitssuchende einen Termin beim Jobcenter, mindert sich der Regelsatz für drei Monate um zehn Prozent. Verweigern über 25 Jahre alte Hartz-IV-Empfänger einen zumutbaren Job oder brechen sie eine Ausbildungsmaßnahme ab, drohen ihnen härtere Sanktionen. Für drei Monate werden dann 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt. Bei einem zweiten Regelverstoß innerhalb eines Jahres erhöht sich die Sanktion auf 60 Prozent. Und beim dritten Regelverstoß innerhalb eines Jahres sind es sogar 100 Prozent.
Erschwerend kommt hinzu, dass in der dritten Stufe auch die Gelder für Wohnen und Heizen und der Zuschuss zur Krankenversicherung nicht mehr gezahlt werden. Es werden also auch die Gelder gestrichen, die nicht im Regelsatz enthalten sind. Bei einer Minderung um mehr als 30 Prozent können die Arbeitssuchenden jedoch ergänzende Sachleistungen beantragen, also zum Beispiel Lebensmittelmarken.
Wie sehen die Sanktionen für die unter 25-Jährigen aus?
Gerade die jungen Menschen will man besonders schnell in Arbeit bringen. Das ist die Begründung dafür, dass die Sanktionen bei ihnen noch wesentlich schärfer sind. Bei den Meldeverstößen gilt zwar das gleiche wie bei den über 25-Jährigen, bei allen anderen Pflichtverletzungen wird der Regelsatz hingegen schon beim ersten Verstoß sofort komplett gestrichen. Bei der zweiten Pflichtverletzung dann auch das Geld für Wohnen, Heizen und die Krankenversicherung.
Wie oft gibt es Sanktionen?
Im Schnitt sind es etwa drei Prozent der Arbeitsuchenden, die gegen die Mitwirkungspflichten verstoßen und deshalb Sanktionen erhalten. Im Jahr 2017 gab es insgesamt 952.839 Sanktionen. Den größten Anteil davon machten mit 77,7 Prozent die Meldeversäumnisse aus. 8,8 Prozent haben sich geweigert, die Pflichten aus der sogenannten Eingliederungsvereinbarung zu erfüllen und 10,4 Prozent haben eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Maßnahme verweigert oder abgebrochen. 3,2 Prozent wurden aus sonstigen Gründen sanktioniert.
Welche Regeln stehen jetzt auf dem Prüfstand?
Weil Karlsruhe die Verfassungsmäßigkeit anhand des Falles prüft, der ihm vorgelegt wurde, geht es am Gericht ausschließlich um die Sanktionen für die über 25-jährigen Erwerbslosen. Und es geht auch nur um die Pflichtverletzungen, die zu den 30-, 60- und 100-Prozent-Kürzungen führen und nicht um die Meldeversäumnisse - auch wenn die am häufigsten vorkommen. Sollten die Richter in ihrem Urteil aber Grenzen oder andere Grundsätze aufstellen, könnten die natürlich auch für die anderen Fälle gelten.
Wie ist die Ausgangslage vor der Verhandlung?
2010 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil erstmals vom "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" gesprochen. Dieses Grundrecht ergibt sich aus der Menschenwürde des Artikels 1 des Grundgesetzes und dem Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 Abs. 1 GG. Dieses menschenwürdige Existenzminimum müsse jedem Einzelnen nicht nur die physische Existenz sichern, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen.
Für die Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums ist der Gesetzgeber verantwortlich und hat dabei einen gewissen Spielraum. Das Bundesverfassungsgericht setzt also den Betrag nicht selbst fest. Allerdings muss der Gesetzgeber den Bedarf in einem transparenten und sachgerechten Verfahren ermitteln. 2014 hat Karlsruhe den damals geltenden Hartz-IV-Regelsatz als "noch verfassungsgemäß" abgesegnet. Über die Sanktionen wurde bisher noch nicht entschieden.
Was dürften die Knackpunkte vor Gericht sein?
Das Sozialgericht Gotha ist klar in seiner Aussage: Wenn der Hartz-IV-Regelsatz das menschenwürdige Existenzminimum darstelle, dann habe darauf jeder einen Anspruch. Dann dürfe es aber nicht sein, dass man mit Sanktionen dafür sorgt, dass die Menschen am Ende doch weniger als das Minimum haben. Auf der anderen Seite steht die Gerechtigkeitsfrage: Ist es gerecht, dass auch Menschen vom Staat und damit vom Steuerzahler Geld erhalten, obwohl sie sich jeder Mitwirkung verweigern? Handelt es sich dann nicht schon um ein bedingungsloses Grundeinkommen?
In der mündlichen Verhandlung wird es zu einem Großteil auch darum gehen, ob die Sanktionen überhaupt etwas bringen. Führen sie dazu, dass die Menschen tatsächlich schneller in Arbeit kommen? Oder werden mitunter schwache Menschen durch die Sanktionen auch ganz aus dem System geworfen, in die Obdachlosigkeit gedrängt? Es wird ausführlich besprochen werden, ob die Sanktionen verhältnismäßig oder ob sie vielleicht zu hart sind - also ob der Gesetzgeber Grenzen überschritten hat.
Wann kommt das Urteil?
Heute wird den ganzen Tag lang verhandelt. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.