Razzia gegen Reichsbürger am 04.06.2024 in Althengstett nahe Calw
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Beschuldigte bei Anti-Terror-Razzia Schatten der Vergangenheit

Stand: 06.06.2024 16:30 Uhr

Bei der jüngsten bundesweiten Razzia im Reichsbürger-Milieu rund um die "Gruppe Reuß" standen zwei Beschuldigte im Fokus. Nach Recherchen von WDR und NDR eint beide eine lange Vorgeschichte mit einem der Hauptbeschuldigten.

Dienstag in Althengstett nahe Calw: Eine Explosion erschütterte die Nachbarschaft. Beamte eines Sondereinsatzkommandos sprengten eine Tür auf, durchsuchten ein Haus. Die Razzia war eine weitere Durchsuchungsmaßnahme in der Ermittlung rund um die "Gruppe Reuß", einer mutmaßlichen Terrorgruppe, deren Köpfe seit Kurzem in Frankfurt vor Gericht stehen.

Insgesamt waren 700 Beamte im Einsatz, durchforsteten an verschiedenen Orten rund um Calw in Baden-Württemberg Wohnungen und alte Munitionsanlagen, Bunker, ein Gehöft. Auch in Sachsen und in Schleswig-Holstein gab es Durchsuchungen, teils in einem Waldstück bei Todesfelde, auf einem alten militärischen Gelände.

In den Fokus der Ermittler sind eine 63-jährige Frau und ihr 73-jähriger Partner geraten. Die Bundesanwaltschaft verdächtigt die beiden, Unterstützer einer terroristischen Vereinigung zu sein: Die Frau soll einem der Angeklagten über lange Zeit ihr Auto zur Verfügung gestellt haben. Der Mann soll der Gruppe Räumlichkeiten auf einem Gut in Sachsen zur Nutzung überlassen haben.

Recherchen von WDR und NDR zeigen: Bei den Beschuldigten handelt es sich um langjährige Weggefährten eines der Hauptbeschuldigten der "Gruppe Reuß": Rüdiger von Pescatore, ein Mann mit mächtiger Statur und großer Aura.

Erster Strafbefahl bereits im Jahr 1994

1994 hatte er sich ganz in der Nähe seines Kasernengeländes mit einem Bundeswehrhubschrauber zu seiner Frau nach Bad Teinach fliegen lassen haben - um mit ihr einen Kaffee trinken zu können. Das geht aus einem Strafbefehl aus dem Jahr 1994 hervor.

In den 1990er-Jahren war Pescatore noch Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons in Calw, wo heute das Kommando Spezialkräfte seinen Sitz hat. Dann wurde er aus der Bundeswehr entlassen und 1999 verurteilt, weil er Waffen aus Bundeswehrbeständen unterschlagen und verschenkt hatte. Auch das stellte ein Gericht damals fest - und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.

Als mutmaßlicher Rädelsführer angeklagt

Heute, mehr als 20 Jahre später, sitzt der einstige Kommandeur erneut auf der Anklagebank: Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt ist er beschuldigt, Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung zu sein, mutmaßlicher Kopf eines "militärischen Arms", der "Gruppe Reuß", der bereit gewesen sein soll, politische Gegner und unliebsame Politiker gefangen zu nehmen und zu beseitigen, so die Bundesanwaltschaft. Er selbst weist das zurück.

Doch Ermittler beschatteten ihn intensiv, fanden heraus, dass Pescatore gemeinsam mit einem Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) in Calw offenbar den Aufbau sogenannter "Heimatschutzkompanien" plante. Auch viele weitere bisherige Beschuldigte stammen aus der Gegend um Calw.

Während Pescatore sich bereits vor Gericht verantworten muss, sind nun zwei neue Menschen, offenbar langjährige Weggefährten, in den Fokus der Ermittler geraten. Doch wer sind die beiden Beschuldigten, gegen die die Bundesanwaltschaft in dieser Woche mit solch großem Aufwand vorging?

Die Geschichte des 73-jährigen Beschuldigten führt hinein in einen Skandal, der seit den 1990er-Jahren immer wieder die Ermittlungsbehörden beschäftigt hat. Im Zentrum damals: Pescatore und verschwundene Waffen. Schon damals spielte dabei der heutige Beschuldigte aus Bad Teinach eine Rolle - und bereits damals hatten Polizisten auch seine Wohnung durchsucht.

Alter Waffenskandal

Nach langen Ermittlungen hielten es die Richter 1999 schließlich für erwiesen, dass Pescatore für das Verschwinden von 44 Makarov-Pistolen verantwortlich war. Ein Zeuge hatte die Waffen damals zuletzt bei Pescatore gesehen. Ungeklärt blieb seinerzeit auch, was mit insgesamt 165 Waffen geschehen war, die wohl unter Pescatores Verantwortung abhandengekommen waren.

Als die Ermittler nun im Rahmen ihrer Nachforschungen gegen die "Gruppe Reuß" mehr als 20 Jahre später schließlich wieder auf Pescatore stießen und ihn in einem Netzwerk von Terrorverdächtigen verorteten, kamen diese alten Fragen offenbar wieder auf. 

Beschuldigter half Pescatore schon damals

Recherchen von WDR und NDR zeigen: Der Mann, dessen Grundstücke am Dienstag durchsucht wurden und der in den 1970er Jahren selbst einmal Fallschirmjäger gewesen war und Pescatore seitdem kennen soll, hatte seinerzeit offenbar mit den verschwundenen Makarov-Pistolen zu tun.

Im Frühjahr 2000, so stellte das Amtsgericht Tübingen seinerzeit fest, hatte er 20 der bis dahin gesuchten Pistolen in einem Waldstück abgelegt. Anschließend soll er unter falschen Angaben anonym die Polizei angerufen haben - um den Verdacht von Pescatore abzulenken. Bis heute gelten die anderen Makarov-Pistolen als vermisst.

Auch später blieb der Mann, dessen Liegenschaften nun durchsucht wurden, Pescatore offenbar zugewandt. Unterlagen belegen, dass er etwa im Jahr 2003 Pescatore dabei unterstützte, dessen Bewährungsauflagen zu erfüllen - und die Bußgelder zu bezahlen, die Pescatore im Rahmen einer Bewährungsauflage an zwei gemeinnützige Organisationen überweisen musste. Der 73-jährige Beschuldigte war auf Anfrage für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Auch die Beschuldigte, deren Grundstücke am Dienstag durchsucht wurden, war damals dabei eingebunden. Anfang 2003 überwies sie 3.750 Euro in Pescatores Namen an eine Hilfsorganisation, wenige Monate später nochmal die gleiche Summe an eine andere Hilfsorganisation - das geht aus entsprechenden Überweisungsträgern hervor. Pescatore war zuvor im Rahmen seiner Bewährung zur Zahlung der Bußgelder verpflichtet worden.

Ein reparaturbedürftiger VW Golf

Für die aktuellen Ermittlungen könnte der Frau nun möglicherweise zum Verhängnis werden, dass Pescatore offenbar über Monate ihr Auto nutzen konnte, während er sich bei klandestinen Treffen bundesweit mit mutmaßlichen Mitverschwörern der "Gruppe Reuß" vernetzt haben soll.

Observationsprotokolle, die NDR und WDR einsehen konnten, dokumentieren, dass Pescatore immer wieder am Steuer des silbergrauen VW Golf gesichtet wurde - während Beschatter des Bundeskriminalamts ihm folgten, und seine Treffen observierten. Schließlich fanden Sie auch die Rechnung eines Reparaturauftrages für den Golf - namentlich adressiert an Rüdiger von Pescatore und eine Firma der beschuldigten Frau, die auch die Halterin des Fahrzeugs ist.

Auf Anfrage sagte die Frau dazu am Telefon: "Die Vorwürfe, so wie sie in der Zeitung stehen, sind so nicht zutreffend." Ansonsten wolle sie sich nicht zu den Vorwürfen äußern. Laut Angaben aus Ermittlerkreisen sollen beide Beschuldigte sich bei den Durchsuchungen kooperativ verhalten haben. Beide wurden nicht festgenommen.

Suche nach Waffen und Munition

Bei den erneuten Durchsuchungen in dieser Woche waren die Ermittler darauf vorbereitet, auf illegale Munitions- und Waffenlager zu stoßen. Unter anderem führten die Ermittlungen zu ehemaligen Munitionsdepots und Bunkeranlagen, die von den Beschuldigten teils verwaltet worden sein sollen.

Die Suche nach alten Waffen aus dem Bundeswehrskandal der 1990er-Jahre beschäftigte die Ermittler, die dem Reuß-Komplex nachgehen, seit Längerem. Unter anderem ließen sich für ihre Ermittlungen die Akten aus den alten Verfahren zukommen. Auch wandten sich Hinweisgeber wiederholt mit Hinweisen zu mutmaßlichen Waffenverstecken an die Sicherheitsbehörden.

2023 rückten die Ermittler unter anderem mehrmals am Bundeswehrstandort Calw an, um dort nach möglichen Erddepots mit Waffen und Munition zu suchen - mit Drohnen, Metallsonden und einem Schaufelbagger. Fündig wurden sie dort allerdings bislang nicht.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR1 Baden-Württemberg am 05. Juni 2024 um 12:00 Uhr.