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Aufarbeitung im Bundestag Der BND und das Desaster in Kabul

Stand: 03.07.2024 18:00 Uhr

Am Donnerstag wird der Präsident des Bundesnachrichtendienstes im Afghanistan-Untersuchungsausschuss befragt. Vertrauliche Unterlagen, die der WDR einsehen konnte, werfen heikle Fragen an BND-Chef Kahl auf.

Sie bemühen sich seit nunmehr zwei Jahren um Aufklärung, jetzt wird auch die Prominenz auf den Zeugenstuhl zitiert: Wenn an diesem Donnerstag mit Bruno Kahl der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag in Berlin aussagen muss, beginnt für die Aufklärung zum dramatischen Ende des deutschen Einsatzes am Hindukusch eine neue Phase. Nach etlichen Zeugenanhörungen rückt nun die politische Ebene ins Visier der Aufklärer: Behördenchefs, Minister und später auch Angela Merkel.

Für den Chef des BND könnten es einige unangenehme Stunden werden. Denn zahlreiche Fragen zur Rolle des BND im Zusammenhang mit der Einnahme Kabuls durch die Taliban im Sommer 2021 sind noch unaufgeklärt.

Der vereitelte Terroranschlag

Als in Kabul das Chaos herrschte und unzählige Menschen versuchten, auf das Flughafengelände zu gelangen, sprengte sich am 26. August 2021 ein Selbstmordattentäter der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) vor dem sogenannten Abbey Gate an der Südseite des Flughafens in die Luft. Bei dem Anschlag wurden wohl weit mehr als 100 Menschen getötet, darunter 13 US-Soldaten. Die US-Dienste hatten in den Tagen zuvor eindringlich vor einem solchen Attentat gewarnt.

In internen E-Mails des BND, die der WDR einsehen konnte, geht hervor, dass man im deutschen Auslandsnachrichtendienst wohl davon überzeugt war, dass durch eigene Erkenntnisse ein "2. Anschlag am Flughafen Kabul" verhindert werden konnte. "Dank an alle Beteiligten und Ermunterung für alle - es macht doch manchmal Sinn, was wir hier machen!", mailte ein BND-Mitarbeiter am 8. September 2021.

Welche Informationen gab der Dienst weiter?

Wenige Tage später hieß es in einer weiteren Mail, man habe nach einem ersten Anschlag auf den Flughafen in Kabul in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Diensten "Fortschritte bei der Aufklärung der regionalen IS-Strukturen" erzielt - und zwar zu einer Zeit, als die deutschen Spione schon abgezogen und die technischen Gerätschaften des BND verschrottet worden waren.

Welche Hinweise aber hatte der BND damals auf einen bevorstehenden weiteren Anschlag am Kabuler Flughafen? Welche Informationen gab der Dienst an wen weiter? Und wie soll ein solches Attentat verhindert worden sein? All das könnte bei der Befragung des BND-Präsidenten am Donnerstag eine Rolle spielen.

Zivilisten getötet

Denn tatsächlich vermeldeten die USA wenige Tage nach dem ersten schweren Anschlag am Tor des Kabuler Flughafens, dass ein zweites Attentat verhindert werden konnte: Durch die Tötung eines angeblichen Terroristen. Am 29. August 2021 hatte eine US-Drohne MQ-9 "Reaper" wohl stundenlang einen Toyota-Geländewagen verfolgt, der durch die afghanische Hauptstadt fuhr. Als verdächtige Gasflaschen auf das Auto aufgeladen wurden, schlugen die Amerikaner zu. Sie feuerten eine Rakete auf das Fahrzeug im Innenhof eines Hauses.

Wenig später allerdings wurde klar: Die USA hatten versehentlich Zivilisten getötet. Der vermeintliche Terrorist war ein afghanischer Entwicklungshelfer, der zuvor als Übersetzer für die US-Truppen gearbeitet haben soll. Mit ihm starben neun Mitglieder seiner Familie, darunter sieben Kinder.

Hinweise per Mail

Ob BND-Informationen in einem Zusammenhang mit diesem tödlichen Drohnenangriff der Amerikaner stehen, ist bis heute nicht bekannt. Der BND wollte sich auf WDR-Anfrage dazu nicht äußern.

Der deutsche Geheimdienst aber hatte wohl in den chaotischen Tagen Mitte und Ende August 2021 mehrfach Hinweise zu mutmaßlichen Terrorplänen und konkrete Informationen mit Partnerdiensten geteilt. Am 28. August 2021 ­ einen Tag vor dem amerikanischen Drohnenangriff, bei dem die Zivilisten ums Leben kamen - verschickte ein BND-Mitarbeiter eine Mail mit dem Betreff "Terroristische Bedrohungslage Afghanistan". Das zuständige Fachreferat habe soeben eine Mail versandt, in der auf weitere, eher wahrscheinliche Anschläge "am oder im internationalen Flughafen Kabul" hingewiesen werde, heißt es darin.

Der Laptop des afghanischen Präsidenten

Spannend dürfte auch sein, wie der BND mit einem Mann aus Kabul umgegangen ist, der sich nach WDR-Recherchen Ende August 2021 bei den Deutschen gemeldet hatte, mit einem mutmaßlich wertvollen Mitbringsel im Gepäck: dem Notebook des damaligen afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani.

Am Abend des 21. August 2021, etwa eine Woche, nachdem Ghani fluchtartig das Land verlassen und die Taliban die Macht in Kabul übernommen hatten, ging im Bundeskanzleramt eine ungewöhnliche Mail ein. Sie kam aus dem Krisenstab der Bundesregierung. Ein Vertreter des Innenministeriums hatte auf seine private Mailadresse den Tipp von einem Bekannten, einem deutschen Stabsfeldwebel, erhalten. 

Der Inhalt: Ein Mann aus dem Umfeld des afghanischen Präsidenten halte sich mit seiner Familie in Kabul vor den Taliban versteckt. Er habe wohl den Laptop des geflohenen Präsidenten bei sich. Im Kanzleramt war man interessiert. "Lieber Bruno, kann man der Sache einmal nachgehen?", schrieb der damalige Staatssekretär Johannes Geismann, zuständig für die Nachrichtendienste, an den BND-Präsidenten. 

In Frankfurt gelandet

Vier Tage später, am 25. August 2021, meldete der für Afghanistan zuständige Mitarbeiter im Kanzleramt an seine Vorgesetzten, der Mann mit dem Laptop sei nun wohl in Frankfurt gelandet. Aber hatte der Mann auch wirklich wertvolle Informationen dabei? 

Wie ging der Nachrichtendienst anschließend mit dem Mann und seinen Informationen um? Und falls er wirklich das Notebook des Präsidenten bei sich hatte, was ließ sich daraus über die letzten Tage von Kabul rekonstruieren? Oder war die Geschichte nur eine Ente? Auf Presseanfragen wollten sich weder der BND noch das Bundeskanzleramt zu dem Vorgang äußern.

Der Freitag vor dem Fall Kabuls

Wichtig dürfte am Donnerstag im Bundestag auch ein Aspekt sein, der bereits vielfach öffentlich diskutiert wurde und dem BND viel Kritik eingebracht hat: Es geht um die Krisenstabsitzung im Auswärtigen Amt am 13. August 2021 in Berlin, zwei Tage vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban. Zugeschaltet war aus der Hauptstadt der deutsche Chefdiplomat in Afghanistan, Jan Hendrik van Thiel.

Die Lage vor Ort verschärfte sich Stunde um Stunde. Nun wurde in Berlin besprochen, ob die Deutsche Botschaft geschlossen und das Personal schnellstmöglich abgezogen werden soll. Van Thiel war dafür, auch die Bundespolizei, zuständig für den Botschaftsschutz, machte Druck.

Die damalige BND-Vize-Präsidentin Tania Freiin von Uslar-Gleichen präsentierte der Runde dann eine eher beschwichtigende Prognose ihres Hauses. Im Protokoll der Runde wurde vermerkt: "Übernahme Kabuls durch TLB (Taliban) vor 11.9 eher unwahrscheinlich". Den 11. September hatte die Biden-Administration als offizielles Abzugsdatum schon Monate zuvor festlegt.

Auf "Kipppunkte" hingewiesen

Die Taliban, so trug Von Uslar-Gleichen weiter vor, hätten "derzeit kein Interesse" an einer militärischen Einnahme Kabuls. Zumindest diese Einschätzung war irgendwie zutreffend: Die Taliban mussten die afghanische Hauptstadt nicht militärisch erobern. Sie fiel ihnen zwei Tage später quasi kampflos in die Hände.

Und so, das behauptete später jedenfalls der damalige Außenminister Heiko Maas, habe die Einschätzung des BND während dieser Sitzung des Krisenstabes letztendlich zu einer Verzögerung im Handeln der Bundesregierung geführt.

Tatsächlich aber sprach die BND-Vize-Präsidentin wohl auch von mehreren "Kipppunkten". Sollten diese eintreten, dann gehe es womöglich alles viel schneller. Eine dieser Variablen war der Zusammenbruch der afghanischen Regierung und die Flucht des Staatspräsidenten Ashraf Ghani. Oder ein früherer Abzug der US-Truppen.

Der genaue Ablauf soll am Donnerstag geklärt werden. Auch Von Uslar-Gleichen ist als Zeugin geladen.