Krieg gegen die Ukraine 74 Zeugen, Hunderte Hinweise zu Kriegsverbrechen
Ermittler des Bundeskriminalamts haben bislang mehr als 70 Zeugen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine vernommen. Bis aber Verantwortliche tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden können, dürften Jahre vergehen.
Es sind nicht nur Waffen, Munition und humanitäre Hilfsgüter, mit denen Deutschland die Ukraine unterstützt. Auch die ukrainischen Kriminalisten erhalten Hilfe, etwa bei den Ermittlungen zu Kriegsverbrechen. Erst in den vergangenen Wochen schickte das Bundeskriminalamt (BKA) wieder mehrere Lastwagenladungen mit Geräten für DNA-Untersuchungen, Pipetten, Zentrifugenequipment, Reagenzflüssigkeiten und andere forensische Laborausstattung an die ukrainischen Partnerbehörden.
Die Zahl der Ermittlungsverfahren zu Kriegsverbrechen wächst in der Ukraine nahezu täglich. Mehr als 60.000 Fälle dokumentierten die ukrainischen Behörden bislang, wie jüngst der Generalstaatsanwalt in Kiew mitteilte. Dabei geht es um gezielte Angriffe des russischen Militärs auf die zivile Infrastruktur, um die Ermordung von Zivilisten, wie in Butscha im vergangenen Jahr, um Folter, sexuelle Gewalt und die Verschleppung von ukrainischen Kindern und Jugendlichen.
Auch in Deutschland ermittelt die Justiz wegen Gräueltaten, die in der Ukraine begangen wurden und werden. Generalbundesanwalt Peter Frank leitete schon kurz nach Beginn des russischen Angriffs im März 2022 ein umfangreiches, sogenanntes Strukturermittlungsverfahren ein. Mittlerweile wurde eigens ein neues Referat in der Karlsruher Behörde eingerichtet, in dem Experten für Völkerstrafrecht den Konflikt genauer in den Blick nehmen.
Aussagen von Opfern und Zeugen
Das hiesige Völkerstrafgesetzbuch und das sogenannte Weltrechtsprinzip ermöglichen es der deutschen Justiz, derartige Straftaten zu ahnden, auch wenn sie nicht in Deutschland stattfinden, und weder Täter noch Opfer deutsche Staatsangehörige sind. So konnten bereits Folterknechte des syrischen Assad-Regimes in Deutschland wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden.
Seit rund einem Jahr sammelt nun das BKA im Auftrag des Generalbundesanwalts Beweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine, darunter Foto- und Videomaterial aus sozialen Netzwerken und anderen offen verfügbaren Quellen. Aber auch Satellitenbilder der Bundeswehr und Informationen des Bundesnachrichtendienstes (BND) werden dafür ausgewertet. Als besonders wichtig gelten jedoch die Aussagen von Opfern und Augenzeugen.
Nach WDR-Informationen vernahm das BKA mittlerweile 74 Zeugen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine. "Bei 69 Zeugen handelt es sich um Personen, die aufgrund des Krieges in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind", teilte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage mit. Die übrigen Zeugenvernehmungen beträfen deutsche Staatsangehörige, die sich aus unterschiedlichen Gründen in der Ukraine aufgehalten hätten.
Mehr als 300 Hinweise
Über unterschiedliche Kanälen, zum Beispiel über Fragebögen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder Hinweise im Internet, rief das BKA ukrainische Flüchtlinge dazu auf, sich zu melden, falls sie derartige Verbrechen erlebt oder davon etwas mitbekommen haben. Mehr als 300 Hinweise haben die Ermittler auf diese Weise bereits erhalten. Hinzu kommen mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGO), die ebenfalls Informationen sammeln und mit den Strafverfolgern in Kontakt stehen.
Bislang aber soll das BKA noch keine konkreten Tatverdächtigen ermittelt haben. Es sei davon auszugehen, heißt es in den Sicherheitsbehörden, dass die Ermittlungen noch sehr lange andauern werden und möglicherweise erst in einigen Jahren tatsächlich Haftbefehle gegen bestimmte Personen erwirkt werden könnten.
Denkbar wäre dabei, dass sowohl einzelne Soldaten als auch hochrangige Kommandeure der russischen Streitkräfte oder die politische Führung im Kreml als Beschuldigte in Betracht kommen, falls diesen Befehle zu entsprechenden Gräueltaten nachgewiesen werden können. Um solcher Personen habhaft zu werden, müssten sie jedoch entweder in der Ukraine in Kriegsgefangenschaft kommen oder in ein Land reisen, dessen Behörden ein internationales Ersuchen um Festnahme auch umsetzen.
Opferrechte stärken
Bundesjustizminister Marco Buschmann hatte im November die Justizminister der G7-Staaten zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen, um darüber zu beraten, wie Kriegsverbrechen künftig effektiver verfolgt werden können.
Vor Kurzem legte der FDP-Politiker ein Eckpunktepapier für eine Reform des Völkerstrafrechts und der Strafprozessordnung vor. So sollen unter anderem Strafbarkeitslücken geschlossen und Opferrechte gestärkt werden. Etwa soll sexuelle Sklaverei als neuer Tatbestand erfasst werden, und Opfer von Kriegsverbrechen sollen nach dem Wunsch des Justizministers zukünftig in deutschen Verfahren als Nebenkläger zugelassen werden können.
Internationale Ermittlungen
Die ukrainische Regierung hatte zuletzt ein Sondertribunal für die Verfolgung der Kriegsverbrechen gefordert, etwa durchgeführt von den Vereinten Nationen. In der Bundesregierung aber sieht man diesen Vorschlag eher kritisch, die Sorge ist groß, dass dadurch der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag als Institution geschwächt werden könnte, der eigens für die Ahndung solcher Verbrechen geschaffen worden war. Mehr als 120 Staaten erkennen die Legitimität des Strafgerichtshofs an, nicht dazu gehören Russland, die USA und China.
Der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof, der Brite Karim Ahmad Khan, hatte 2022 umfangreiche Ermittlungen zum Krieg in der Ukraine angekündigt und seine Staatsanwälte in das Land entsandt. Zudem schlossen sich Justizbehörden aus mehreren europäischen Staaten, darunter die Ukraine, Polen, Litauen, Estland, Slowakei und Lettland, zu einem Joint Investigation Team (JIT) zusammen und kündigten an, Erkenntnisse auszutauschen.
Auch die US-Justiz ermittelt inzwischen wegen Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg, Vizepräsidentin Kamala Harris sagte jüngst bei einer Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die US-amerikanischen Behörden bezichtigten Russland mittlerweile formell der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
In der Ukraine war bereits im Mai 2022 in einem ersten Prozess ein russischer Panzersoldat wegen der Tötung von Zivilisten zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden. In zweiter Instanz wurde das Urteil dann auf fünfzehn Jahre gesenkt.