China-Experte Zenz "Es handelt sich um kulturellen Genozid"
Im Nordwesten Chinas spielt sich etwas nie Dagewesenes ab, sagt der China-Experte Zenz im tagesschau.de-Interview. Es gebe eine beispiellose Kampagne der Assimilierung der Uiguren, einen "kulturellen Genozid".
tagesschau.de: Wie würden Sie die Situation für Minderheiten in der Autonomieregion Xinjiang im Nordwesten Chinas aktuell beschreiben?
Adrian Zenz: Dort spielt sich etwas noch nie Dagewesenes ab. Die systematische Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit ist, vom Ausmaß her, vermutlich die größte seit dem Holocaust. Es ist eine beispiellose Kampagne der Assimilierung, der Unterdrückung, und der Umerziehung. China geht es dabei - anders als beim Holocaust - aber nicht darum, ethnische Minderheiten zu eliminieren. Sondern es geht darum, sie langfristig und auf eine ganz intensive Art und Weise in den chinesischen Staat zu integrieren. Kulturell, religiös, sprachlich, in jeder Hinsicht. Es handelt sich um einen kulturellen Genozid.
tagesschau.de: Welche Motivation steckt Ihrer Ansicht nach dahinter?
Zenz: Die Uiguren, ein Turkvolk, sind Istanbul kulturell und geistlich näher als Peking. Sie haben eine eigene Identität und haben sich schon immer diskriminiert gefühlt. Dieser Konflikt eskalierte 2009, als es zu blutigen Unruhen in Ürümqi kam, der Regionshauptstadt von Xinjiang.
In der Folge kam es auch zu Bombenanschlägen und Messerattacken durch Uiguren. Die Zentralregierung hat, statt die Symptome der Unzufriedenheit zu bekämpfen, mit einer beispiellosen Unterdrückungskampagne reagiert.
tagesschau.de: Ein Bestandteil dessen, was Sie einen kulturellen Genozid nennen, sind die Internierungslager, die auch in den nun vom ICIJ und seinen Medienpartnern veröffentlichten Dokumenten beschrieben werden. Wie bewerten Sie diese Dokumente?
Zenz: Die Dokumente sind in ihrer Wortwahl eindeutiger und ehrlicher als alles, was ich bisher gesehen habe. Sie unterscheiden sich dramatisch von der offiziellen Regierungspropaganda. Es ist die Rede von Sicherheitsmaßnahmen, die engmaschige Polizeipatrouillen auf den Geländen dieser sogenannten Berufsbildungsstätten vorschreiben, ganz detaillierte und stringente Maßnahmen, um ein Fliehen zu verhindern. Sie beschreiben die Lager als Orte der systematischen Indoktrinierung, der intensiven Gehirnwäsche.
tagesschau.de: Die chinesische Regierung spricht von den Lagern als Ausbildungszentren, in denen ungebildete Menschen berufliche Qualifikationen erhalten sollen. Außerdem sollen islamistische Strömungen verhindert werden. Was sagen Sie dazu?
Zenz: Das ist ein geschickter Vorwand. Nicht zuletzt aus den nun veröffentlichten Unterlagen wissen wir ja, dass dort gar keine Berufsbildung durchgeführt wird, sondern eine Umerziehung im Sinne der Kommunistischen Partei. Aus anderen Dokumenten wissen wir wiederum, dass berufliche Weiterbildung außerhalb der Lager stattfindet, zum Beispiel indem die Regierung private Firmen für Weiterbildungsmaßnahmen bezahlt.
tagesschau.de: Sind die Lager also eher Gefängnisse?
Zenz: Ins Gefängnis kommt man auch in China nur dann, wenn man einen Gerichtsprozess durchlaufen hat, auch wenn es in dem Land viele Schauprozesse gibt. In die Umerziehungslager aber wird man einfach gesteckt. In der Regel werden die Menschen ein bis zwei Jahre dort festgehalten. Die meisten wissen gar nicht, warum sie interniert sind. Trotzdem werden sie, teilweise mit Folter, dazu gezwungen, eigenes Fehlverhalten anzuerkennen und Besserung zu geloben.
tagesschau.de: Wie viele Lager gibt es nach Ihrer Kenntnis?
Zenz: Ich gehe davon aus, dass es für jede administrative Ebene in Xinjiang mindestens ein Lager gibt. Das sind dann, zählt man alle Städte und Dörfer zusammen, mehr als 1000 Lager. Ich schätze, dass zwischen 8.5 und 17 Prozent aller turkstämmigen Erwachsenen in der Autonomieregion Xinjiang in den Lagern sind oder waren. Das heißt, zwischen 900.000 und 1,8 Millionen Menschen sind oder waren interniert.
tagesschau.de: Wie kommen Sie auf diese Zahlen?
Zenz: Meine Recherchen basieren auf der Auswertung von Ausschreibungen, Verwaltungsbriefen und anderen Dokumenten. Das gibt mir sehr viele Datenpunkte, die ich verarbeite und verknüpfe. Beispielsweise habe ich Tabellen von lokalen Regierungen, in denen für Tausende Namen - ganze Dörfer zum Teil - eingetragen ist, wer in einem Lager ist und wer nicht.
tagesschau.de: Wie leben die Menschen, die nicht in den Lagern sind?
Zenz: Die Regierung hat ein sehr engmaschiges Überwachungssystem aufgebaut. Es gibt in den meisten uigurischen Wohnhäusern eine Kamera über jedem Eingang. Es gibt überall Checkpoints, man wird ständig durchsucht.
Aber das Schlimmste ist vielleicht, dass Regierungsbeamte in uigurische Dörfer geschickt werden. In diesen Dörfern besuchen sie die Familien, sie wohnen, essen, schlafen bei den Leuten, um herauszufinden, wer wirklich an die Partei glaubt. Gibt es hier noch religiösen Glauben? Gibt es vielleicht einen Moment des Zögerns, wenn Muslimen Schweinefleisch angeboten wird?
All das wird dann in eine Smartphone-App eingegeben und die leitet die Daten weiter in eine zentrale Polizei-Datenbank. Freiheit gibt es in Xinjiang nicht, weder in den Lagern noch außerhalb.
tagesschau.de: Welche Folgen hat das für die uigurischen Gesellschaften?
Zenz: Familien werden mittlerweile systematisch getrennt. Ein oder beide Elternteile sind in Lagern oder im Gefängnis: Wenn jemand mit Verwandten im Ausland spricht, wenn verbotene Apps eingesetzt wurden, wenn religiöses Material auf dem Handy oder anderswo gefunden wurde, wenn irgendeine religiöse Praxis nachgewiesen wurde.
Teilweise haben Menschen vor über zehn Jahren mal eine Pilgerreise nach Mekka gemacht, das reicht schon, um ins Lager zu kommen. Die Kinder sind zunehmend in Vollzeit-Schulen, wo sie wie in Internaten leben. Der Staat hat die volle Kontrolle, denn dort darf nur Chinesisch gesprochen werden.
tagesschau.de: Wieso ist die Kritik der Weltgemeinschaft nicht größer?
Zenz: Die Uiguren sind weit weg, in der Mitte Asiens, wo es keine guten Informationskanäle gibt. Sie haben auch keine Leitfigur wie die Tibeter den Dalai Lama. Auch viele islamische Länder stellen sich keineswegs sich auf die Seite ihrer Glaubensbrüder. Saudi-Arabien lobt die Situation der Muslime in China als vorbildlich.
Mehr als 15 muslimisch geprägte Länder haben einen Brief unterzeichnet, in dem Chinas Vorgehen in Xinjiang gelobt wird. Ich denke, das liegt daran, dass diese Regierungen selbst oft autokratisch sind. Sie haben selbst oft Menschenrechtsverletzungen begangen und kein Interesse an Glauben oder Werten, sondern am Selbsterhalt. Das sieht man auch an dem neuen Schulterschluss zwischen Peking und Moskau. Russland fühlt sich vom Westen ausgeschlossen und sucht alternative Machtzentren auf seiner Seite. In diesem Machtkalkül haben Menschenrechte keinen Platz.
tagesschau.de: Warum ist die deutsche Bundesregierung so zurückhaltend?
Zenz: Die deutsche Außenpolitik ist schon seit langer Zeit von wirtschaftlichen Erfolgsbestrebungen geprägt. Das ist leider immer noch sehr wichtig. Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass auf höchster Ebene die Situation angeprangert wird. Es ist höchste Zeit, dass Frau Merkel persönlich zu dieser Situation Stellung nimmt.