Fatima Ahmadi
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Bundesaufnahmeprogramm Gefährdeten Afghanen werden Zusagen entzogen

Stand: 04.07.2024 11:51 Uhr

Bis zu 1.000 gefährdete Personen aus Afghanistan wollte die Bundesregierung jeden Monat seit Ende 2022 aufnehmen. Stattdessen werden nun reihenweise Zusagen zurückgenommen. Nur sehr wenige kommen nach Deutschland.

Von Andrea Brack Peña und Armin Ghassim, NDR

Als Fatima Ahmadi ihr E-Mail-Postfach öffnet, bricht ihre Welt zusammen. Ein Jahr, nachdem Deutschland sie als gefährdet anerkannt und ihr eine Aufnahmezusage erteilt hatte, wird diese Zusage nun plötzlich zurückgenommen.

In dem kurzen Schreiben der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) in ihrem Postfach heißt es: "Nach einer erneuten Untersuchung wurde entschieden, dass, anders als zuvor angenommen, für folgende Personen nicht die Grundlage für eine Aufnahme in Deutschland besteht…" Dann folgt ihr Name. Ein Grund für die Rücknahme der deutschen Aufnahmezusage, die sie schon 2022 erhalten hatte, wird dabei nicht genannt.

Stundenlange "Sicherheitsinterviews"

Offenbar wurde sie nach einem sogenannten Sicherheitsinterview als Gefahr für Deutschland eingestuft. Dabei war ein solches Sicherheitsinterview zum Zeitpunkt ihrer Zusage noch gar nicht vorgesehen.

Das Bundesinnenministerium teilte auf Anfrage mit, es könnten sich "in jedem Stadium des Verfahrens Erkenntnisse ergeben, die einer Aufnahme entgegenstehen." Grundlage für die zurückgenommenen Aufnahmezusagen könnten demnach neue Erkenntnisse sein, die sich aus einer ausführlichen "Sicherheitsüberprüfung" ergeben.

Seit Sommer 2023 führen Beamte von Bundespolizei und Verfassungsschutz mit den afghanischen Antragstellern in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad stundenlange Interviews, die klären sollen, ob diese Personen eine Gefahr für Deutschland darstellen könnten.

Alleinstehende Frau als Gefährderin?

Ergebnis der zurückgenommenen Zusage: Fatima Ahmadi steht unmittelbar vor der Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan. Die 30-jährige alleinstehende Frau hatte in Afghanistan vor der Taliban-Herrschaft für die Regierung gearbeitet. Sie war zuständig für die Koordination von Hilfsorganisationen in der Provinz Bamiyan.

Nach Recherchen des ARD-Magazins Panorama geht es aktuell vielen gefährdeten afghanischen Familien ähnlich: Nachdem sie bereits vor Monaten, teilweise mehr als einem Jahr, eine Zusage für die Aufnahme in Deutschland erhielten, nehmen deutsche Behörden diese Aufnahmezusagen nun reihenweise zurück, zur Überraschung und Verzweiflung der Betroffenen.

Sie alle mussten in die pakistanische Hauptstadt Islamabad reisen und dort monatelang auf die Interviewtermine in der deutschen Botschaft warten. Nun stehen sie vor dem Nichts. Wie viele das genau betrifft, wird "statistisch nicht erfasst", teilte das Bundesinnenministerium auf Anfrage mit.

Sicherheitsüberprüfungen mit intimen Fragen

Nach Panorama-Recherchen werden im Rahmen der Sicherheitsüberprüfungen auch Fragen gestellt, deren Sicherheitsrelevanz fragwürdig ist. Antragsteller werden demnach nach ihrer Meinung zum Krieg in Gaza oder dem Krieg in der Ukraine gefragt. Zudem werden intime Fragen gestellt, wie etwa dem Umgang mit einem Sohn, falls dieser sich in Deutschland als homosexuell outen sollte, oder den Umgang mit der Ehefrau, falls diese fremdgehen sollte.

Ebenso werden Eltern danach gefragt, wie sie es fänden, wenn ihre Töchter im Schwimmunterricht in Deutschland einen Bikini trügen.

Auf Anfrage, inwieweit diese Fragen sicherheitsrelevant seien, teilt das Bundesinnenministerium mit, die Inhalte der Sicherheitsüberprüfungen seien streng geheim, da sie Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik beträfen. Auch in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linken, Clara Bünger, heißt es dazu: "Die erbetenen Informationen berühren derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht überwiegt."

Politischer Wille fehle

Hans-Hermann Dube ist im Bundestag Sachverständiger in der Enquete-Kommission für Afghanistan. In Afghanistan war er zwölf Jahre lang für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Für ihn sind die Rücknahmen von Zusagen sowie die Art der Sicherheitsüberprüfungen vor allem ein Zeichen dafür, dass die Aufnahme von gefährdeten Afghanen politisch nicht mehr gewollt ist.

"Am Anfang war das Aufnahmeprogramm wirklich gewollt. Jetzt ist es nicht mehr gewollt. Und man versucht es eben damit zu diskreditieren, dass man sagt, das sind Gefährder, auch wenn es garantiert keine sind. Damit will man der Bevölkerung zeigen: Wir sorgen dafür, dass nicht zu viele Asylbewerber kommen", so Dube.

Nur zwei Prozent der angekündigten Aufnahmen

Über das im November 2022 gestartete Bundesaufnahmeprogramm hatte die Bundesregierung eigentlich angekündigt, monatlich bis zu 1.000 gefährdete Personen aus Afghanistan aufzunehmen.

Dies war ein Versprechen an diejenigen, die sich gemeinsam mit Deutschland und den westlichen Verbündeten für die Demokratie in Afghanistan eingesetzt hatten: "Besonders an sie richtet sich deshalb das humanitäre Aufnahmeprogramm. (...) Ihnen wollen wir ein Stück Hoffnung zurückgeben und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit", sagte Außenministerin Annalena Baerbock zum Start des Programms. Bisher hätten also 20.000 Personen aufgenommen werden müssen. Tatsächlich sind es 533, also weniger als drei Prozent der angekündigten Aufnahmen.

Sicherheitslage in Deutschland "prioritär"

Die Hamburgerin Elaha Hakim von der Nichtregierungsorganisation "Kabul Luftbrücke" ist vor Ort in Islamabad und versucht, besonders alleinstehenden Frauen wie Fatima Ahmadi und Familien zu helfen, die bereits eine Zusage von Deutschland haben. Die Evakuierung alleinstehender Frauen aus Afghanistan organisiert der Verein "Kabul Luftbrücke", finanziert allein durch Spendengelder.

"Das Bundesaufnahmeprogramm ist gescheitert", meint Hakim. "Wenn man sich die Zahlen anschaut, kann man sich schon fragen, ob dieses Aufnahmeprogramm überhaupt noch Menschen aufnehmen soll." Aktuell warten laut Bundesinnenministerium 3.022 gefährdete Personen aus Afghanen in Pakistan, denen Deutschland bereits die Aufnahme zugesagt hat.

Auf Nachfrage, ob sie ihr Versprechen gegenüber den schutzbedürftigen Afghanen eingehalten habe, entgegnet Bundesinnenministerin Nancy Faeser: "Über das Bundesaufnahmeprogramm, speziell, da sind nicht so viele gekommen wie gedacht. Da geht es aber auch darum, dass nach der Sicherheitsüberprüfung entschieden wird. Ich verantworte die Sicherheitslage in Deutschland, das ist natürlich prioritär weiterhin.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. Juni 2024 um 08:40 Uhr.