Tiergartenmord-Prozess Zeuge ausspioniert?
Ein Mitarbeiter der Rechercheorganisation Bellingcat war wichtigster Zeuge im Tiergartenmord-Prozess. Offenbar hatte Russland Interesse an ihm, wie die "Washington Post" in einer Recherche zu einem Geheimdienstagenten aus Österreich herausfand.
Von Silvia Stöber, tagesschau.de
Bereits im Zusammenhang mit dem Skandal um Wirecard und dessen Manager Jan Marsalek fiel der ehemalige Agent des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) in Österreich auf. Die Staatsanwaltschaft Wien wirft Egisto O. den Verrat von Staatsgeheimnissen vor. Er soll Daten zu einer Vielzahl von Personen abgefragt haben, ohne dienstlichen Grund. Er bestreitet die Vorwürfe.
Von einer Personen-Abfrage besonderer Brisanz berichtet nun die "Washington Post" unter Bezugnahme auf Dokumente, die der US-Zeitung vorliegen. Egisto O. soll die Abfrage im Dezember 2020 durchgeführt haben, als er bereits an die Polizeiakademie versetzt worden war.
Es geht dabei um Christo Grozev, der eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung des Mordes im Kleinen Berliner Tiergarten gespielt hat. Grozev arbeitet für die Rechercheorganisation Bellingcat und klärte die wahre Identität eines in Haft sitzenden Russen auf, der kurz nach dem Mord in der Nähe des Tatortes festgenommen worden war. Anhand von Informationen in russischen Datenbanken fand Grozev den Namen Vadim Krasikov heraus und konnte Bewegungsprofile von ihm erstellen. Aufgrund dieser Indizien und der Ermittlungsergebnisse der Behörden wurde der Angeklagte als Vadim Krasikov zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi sprach von einer Tat im Auftrag staatlicher russischer Stellen und bezeichnete sie als Staatsterrorismus.
Auf Anfrage von tagesschau.de bestätigte Grozev, dass die österreichischen Behörden ihn über die Abfrage seiner Daten, inklusive seiner Privatadresse, informiert haben. Er gehe davon aus, dass die Datenabfrage im Auftrag Russlands stattgefunden hat. Denn Egisto O. habe gegenüber einem anderen Agenten von "unseren Freunden" und von einer "Causa" gesprochen, in die sich Grozev offenbar eingemischt habe. "Ich weiß nicht, in welche andere 'Causa' ich mich eingemischt haben soll", so Grozev. Ziel könne Einschüchterung, Beschattung oder auch die Vorbereitung eines Attentats gewesen sein.
Fehleranalyse der Operation in Berlin
Darüber hinaus berichtet die "Washington Post", dass auf dem Mobiltelefon von Egisto O. eine Analyse zum Tiergartenmord gefunden worden sei. In dem dreiseitigen Papier seien offenbar Mängel der Operation in Berlin bewertet und Empfehlungen gegeben worden, wie der russische Geheimdienst künftig vorgehen könnte. Die Analyse legt demnach nahe, dass ein Maulwurf oder Überläufer Informationen geliefert haben könnte, die den Plan gefährdet haben könnten, da Krasikov auf der Flucht festgenommen wurde.
Nach Aussage eines Polizisten hatten nur wenige Sekunden dazu gefehlt, dass der Täter als Tourist verkleidet auf einem E-Roller entkommen wäre. Zum Verhängnis wurde ihm, dass ihn zwei Zeugen dabei beobachteten, wie er in einem Busch die Kleidung wechselte und Tatgegenstände in die Spree warf. Da die herbei gerufene Polizei nach wenigen Minuten eintraf, konnten sie den Täter noch rechtzeitig stellen.
Bei der Bundesanwaltschaft läuft noch ein Verfahren gegen einen oder mehrere mögliche Mittäter, die das Opfer ausgekundschaftet, Tatgegenstände besorgt und den Fluchtweg organisiert haben könnten. Als verdächtig gilt ein Russe mit einer ähnlichen Scheinidentität wie Krasikov. Er soll sich vor der Tat in der EU aufgehalten haben und in Verbindung mit einem weiteren Mord in Istanbul stehen.
In seinem Plädoyer erwähnte der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Staatsanwalt Lars Malskies, den Fall eines russischen Diplomaten. Dieser war wenige Wochen vor dem Urteil auf der Straße vor dem Gebäudekomplex der russischen Botschaft in Berlin tot aufgefunden worden. Die Ursache für den Sturz aus einem Fenster konnten die deutschen Behörden nicht ermitteln, da der Mann über Diplomatenstatus verfügte. Allerdings wurde sein Name bekannt. Bellingcat entdeckte bei ihm Verbindungen zum russischen Geheimdienstes FSB, mit dem auch Krasikov in Kontakt gestanden haben soll.