Ende des NATO-Gipfels Wertegemeinschaft mit Widersprüchen
Die NATO wurde einst auch gegründet, um gemeinsame liberale Werte zu verteidigen. Genau hierbei hat die Allianz beim Gipfel in Madrid kein gutes Bild abgegeben. Das zeigt der Deal mit der Türkei.
Vor nicht mal einem Jahr lag die westliche Allianz am Boden. Der Afghanistan-Einsatz war gescheitert und das mächtigste Militärbündnis der Welt war nicht einmal in der Lage, am Flughafen von Kabul für einen halbwegs geordneten Abzug zu sorgen. Westliche Elite-Militärs mussten gedemütigt abziehen - als Verlierer gegen eine Truppe schlecht ausgerüsteter, aber hoch motivierter Taliban.
Milliarden für die Aufrüstung Europas
Nun, weniger als ein Jahr später, feiert die NATO eine Art Renaissance. Der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine hat dafür gesorgt. Beim Gipfel in Madrid wurden wichtige Entscheidungen getroffen, die das Bündnis verändern werden - und die Gesellschaften auch.
In Europa wird eine beispiellose Aufrüstung stattfinden. Die Zahl der Soldaten, die im Krisenfall schnell einsatzbereit sind, wird vervielfacht. Milliarden und Billionen werden ins Militär investiert; Geld, das an anderer Stelle fehlen wird: in Schulen, im Gesundheitssystem, beim Ausbau des Schienennetzes. So bitter das ist - so nötig ist es leider auch.
Wenn die Diplomatie nicht mehr weiter weiß, wenn ein Aggressor wie Putin seine Panzer in Bewegung setzt und ganze Städte zerbombt, dann muss der Westen eine Alternative haben zur Unterwerfung. Aufrüstung und Abschreckung müssen dann wirken - und das wird eine Zumutung für alle.
Militärbündnis als Wertegemeinschaft
Damit die liberalen Gesellschaften des Westens an dieser Zumutung nicht zerbrechen, sollte klar sein, dass es um die Verteidigung von Werten geht. Nicht umsonst wurde die NATO ja auch als eine Wertegemeinschaft gegründet. Und genau da hat sie in Madrid kein gutes Bild abgegeben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der in der Heimat liberale Werte mit Füßen tritt, Journalisten mundtot macht und politische Gegner, sobald sie gefährlich werden, einfach zu Terroristen erklärt, konnte beim Gipfel einen ganz großen Triumph feiern. Wochenlang blockierte er die Beitrittswünsche von Finnland und Schweden.
Man muss sich noch mal genau vor Augen führen, was das bedeutet: Ein autoritärer Herrscher kann gegen den erklärten Willen sämtlicher 29 Alliierten verhindern, dass zwei lupenreine skandinavische Demokratien Mitglieder der Wertegemeinschaft NATO werden.
Erdogans Triumph in Madrid
Der Deal, der dann in Madrid als Durchbruch gefeiert wurde, dürfte Erdogan nur zu weiteren Erpressungsaktionen ermuntern. Er hat jetzt schriftlich, dass er Unterstützung verlangen kann, im Kampf gegen militante Kurdenorganisationen. Im Fall der auch in Europa verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dürfte das noch gerechtfertigt sein.
Aber Erdogan geht es ausdrücklich um alle Kurden - vor allem um diejenigen, die in Schweden Asyl bekommen haben. Er wird ihre Auslieferung oder Abschiebung fordern; Listen sollen schon in Vorbereitung sein.
Erdogans Kampf gegen die YPG
Besonders zynisch und auch gefährlich für die NATO ist Erdogans Versuch, die Partner auch gegen die Kurden in Syrien zu mobilisieren, gegen die kurdische Miliz YPG. Das sind genau die Gruppen, die - im Auftrag des Westens und unterstützt von den USA - in Syrien die Schmutzarbeit erledigten beim blutigen Kampf gegen die Islamisten.
Dass Erdogan gegen sie einen eigenen Krieg anzettelte und dafür völkerrechtswidrig in Syrien einmarschierte, hat viele NATO-Partner empört. Sie strichen danach ihre Waffenlieferungen an die Regierung in Ankara.
Notorischer Quertreiber
Auch in dieser Sache kann Erdogan vom Gipfel in Madrid einen Triumph mit nach Hause nehmen. Nur wenige Stunden nach dem Deal wurde bekannt, dass die USA helfen wollen bei der Modernisierung der türkischen Kampfflugzeugflotte. Das war lange nicht der Fall.
Ausgerechnet in der gefährlichsten Konfrontation mit Russland seit Jahrzehnten blockierte der türkische Präsident die Norderweiterung, nur um sein nationales Süppchen zu kochen. Das schwächt die NATO als Wertegemeinschaft. Weitere Alleingänge sollte sie dem notorischen Quertreiber nicht so leicht machen.
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