Bahn-Sanierung Was steckt hinter den tödlichen Unfällen?
Angehörige von Arbeitern, die bei Unfällen auf Bahn-Baustellen verletzt oder sogar getötet wurden, erheben schwere Vorwürfe gegen den DB-Konzern. Sind Strecken nicht ausreichend abgesichert?
Silke Hedemann und Steffen Rach haben ihren Sohn Simon Hedemann an einer Baustelle der Bahn verloren. Er war noch Auszubildender und wurde nur 19 Jahre alt. Necmi Ekici trauert um seinen großen Bruder Necip. Katharina Duarte hat die drei Familien zusammengebracht, nachdem ihr Lebensgefährte Ali Ceyhan bei der Gleisarbeit umkam.
Alle berichten das Gleiche über den Umgang mit den Unfällen: Es gebe weder Informationen noch eine angemessene Aufklärung.
Der Fall Ali Ceyhan
Am 11. September 2023 wird der 33-jährige Ali Ceyhan zu einer Reparatur am Gleis in Köln-Mülheim gerufen. Ein Regionalexpress erfasst den Weichenmechaniker, trifft ihn am Kopf. Ali stirbt vier Tage später im Krankenhaus. Die Bahn bezahlt die Beerdigung - aber Antworten gibt es keine.
Am Unfalltag befand sich Ali Ceyhan zwischen den Gleisen an einem Kölner S-Bahnhof. Zusammen mit einem Lokführer der Deutschen Bahn, der anonym bleiben will, hat das ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus die Unfallstelle aufgesucht. Für den Lokführer ist klar: Da, wo Ali gearbeitet hat, hätte die Strecke gesperrt sein müssen.
Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt im Fall Ali Ceyhan gegen einen Bahn-Mitarbeiter, der für die Sperrung der Gleise zuständig war. Also nur der Fehler eines Einzelnen? Der anonyme Lokführer, der sich oft hinter den Kulissen für die Aufklärung von Unfällen engagiert, berichtet von einem Riesendruck, der hinter Baumaßnahmen herrsche, damit die Züge wieder fahren könnten.
Der harte Job der Streckenarbeiter
Plusminus trifft Ingo Lubaczewski, Lokführer bei einem anderen Bahnunternehmen, der offen spricht. Er erlebt immer wieder brenzlige Situationen, weil Baustellen nicht gesperrt werden. Es seien Schockmomente, wenn er um den Gleisbogen komme und plötzlich Arbeiter auftauchten: Einmal funkt er deswegen den Fahrdienstleiter an, erzählt Lubaczewski, und erfährt, dass dieser davon gar nichts weiß.
Wird die Sicherheit vernachlässigt, um nicht noch mehr Verspätungen zu produzieren? Die Deutsche Bahn weist diesen Vorwurf zurück. Achim Stauß, Pressesprecher der Deutschen Bahn, sagt: "Sicherheit kommt vor Pünktlichkeit und erst dann kommt Wirtschaftlichkeit:" Betrachte man es auf lange Sicht von 15, 20 Jahren, sei die Zahl der Unfälle sogar zurückgegangen, so Stauß. Er bezieht sich auf eigene Statistiken, die Plusminus aber nicht vorliegen.
Ungenaue Statistiken der Deutschen Bahn?
In ihrem Konzernbericht spricht die Bahn für 2023 nur von vier tödlichen Arbeitsunfällen. Doch im Sicherheitsbericht des Eisenbahnbundesamts sind acht Fälle verzeichnet. Bei einer Auswertung von Presseberichten ergibt sich eine noch höhere Zahl: zwölf.
Nachfrage beim Bahn-Sprecher Stauß, welche Zahl denn nun stimmt: "Wir in unserem Geschäftsbericht sprechen halt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der DB beschäftigt sind. Es gibt natürlich höhere Zahlen, wenn man auch Verunglückte dazu nimmt, was ja genauso tragisch ist, von Unternehmen, die beauftragt wurden", sagt Stauß.
Der Fall Necip Ekici
So taucht Necip Ekicis Tod nicht in der Statistik auf, denn er arbeitete für einen Subunternehmer. Offenbar fuhr ein Bagger rückwärts und rollte über Ekici, der dahinter tätig war. Einen Sicherungsposten, der ihn hätte warnen können, soll die Baufirma nicht gehabt haben. Sein Bruder kann das nicht nachvollziehen. Seine Vermutung: Der Druck und die Abhängigkeit von weiteren Aufträgen spielten eine Rolle.
Auch der anonyme Lokführer bestätigt uns, dass bei Subunternehmen der Druck nochmal sehr viel höher sei als bei der Bahn selbst. Die betroffene Baufirma, bei der Necip Ekici angestellt war, will sich zu dem Fall nicht äußern. Zum hohen Druck komme Personalmangel bei den Bauunternehmen und bei der Bahn selbst hinzu, erzählt uns auch der Betriebsratsvertreter Tolga Özgül.
Tendenz der Sicherheitsmängel steigt
Die zuständige Aufsichtsbehörde ist das Eisenbahnbundesamt. Das kontrolliert regelmäßig, ob die Bahn bei Baustellen die Vorschriften einhält. Tatsächlich wurden seit Anfang 2023 bei 800 Kontrollen insgesamt 2.700 Sicherheitsmängel beanstandet - Tendenz steigend.
Die Familien wollen, dass der Tod ihrer Liebsten nicht umsonst war. Daher sind Katharina Duarte und Necip Ekici nach Berlin gereist, um mit Abgeordneten des Bundestags zu sprechen. Es geht ihnen darum, sich Gehör zu verschaffen. Die Betroffen wollen, dass man sie ernst nimmt - und dass man die Probleme, die es bei der Deutschen Bahn gibt, nicht klein redet, wie sie sagen.
Sie wollen, dass ihre Angehörigen die letzten Toten bei der Bahn bleiben. Doch laut Presseberichten sind auch 2024 bereits neun Arbeiter am Gleis ums Leben gekommen.